Herüben und Drüben

Herüben, das war das Haus mit dem Stall, die Selchhütte und das Blechdach
vor dem Küchenfenster, die Kirschbäume, die Schaukel, der Kletterbaum und der von dem Abfall aus den durchfahrenden Zügen gedüngte Erdbeergarten.
Drüben, das waren die Äpfel und der Heuschober, das Garagendach , die Ribiseln, der Fuchsgraben und der Waldrand.

Nie schlief man besser als in diesen stockdunklen Nächten am Land, während doch der Zug Licht- und Lärmtunnel ins Finstere riss, kaum acht Meter entfernt von unseren Kopfkissen.


--


Wenn man sich richtig hochschaukelte mit dem Blick zum Waldrand drüben,
hatte man, sobald einer der schnellen Zweistundentaktzüge durchdonnerte, das Gefühl gleich, in den nächsten Millisekunden, abzuheben und auf dessen Dach zu landen, als könnte man das: Fliegen.
Vielleicht hätte man es nur wollen müssen. Man konnte sich auch aus sich heraus und in die Köpfe der Reisenden hinein denken, die aus den Wagons schauten und deren überraschte Gesichter man beinahe zu gut zu erkennen vermochte.
Man konnte sich vorstellen, wie das Bild für jenen sein würde, der, während er soeben in Zeitbruchteilen einen Obst- oder Gemüsegarten durchquerte zwei gestreckte Kinderbeine seitwärts auf sich zufliegen und kurz vor dem vermeintlichen Crash wieder verschwinden sah.
Es war ein köstliches Vergnügen.
Man konnte sich an der nach Metall, Rost, Schmieröl und Hitze schmeckenden Zugluft mit offenem Mund betrinken. Man konnte sich vom irren Lärm einer drei oder vier Meter entfernt durch den Garten walzenden Eisenbahn betäuben lassen. Man fühlte sich in zweifelhafter Sicherheit.
Das Zweifelhafte war das Gute daran. Gefühle, wie in einer Geisterbahn.

Weniger Spaß als die Reisezüge machten die Güterzüge, da man auf das
Vergnügen der verdutzten Gesichter verzichten musste. Und obwohl die Güterzüge noch martialischer lärmten. Besonders wenn der Zufall -genannt Fahrplan- uns gleich zwei davon aus entgegen gesetzter Richtung kommend zugleich durch den Garten jagte. Wie sie da scheinbar zu knapp aneinander vorbeirasten und es immer wieder gut ging erschien uns wie ein Wunder, das die Fantasie mit einem durchgehen ließ, in der Vorstellung, einmal in der schmalen Senke zwischen den beiden gegenläufigen Geleisen auszuharren bis zwei Züge sich treffen. Der Mut reichte zum Glück nicht soweit wie die Gedanken und die Großmutter hätte uns sowieso zur Schnecke gemacht, hätte man einen davon je laut auszusprechen gewagt. Stattdessen schaukelten wir. Was gänzlich unspektakulär schien, sah man von unserer Fantasie und davon ab, dass die Hochleistungsbahn drei Meter entfernt zu der, vom Großvater noch für die eigenen Kinder gebauten, Schaukel geradewegs und in doppelter Spur durch das Grundstück verlief. Wollte man zu den Erdbeerrabatten lief man schnurstracks den Schotterbahndamm entlang auf einem handbreiten Pfad. Wollte man hingegen drüben zum Heuschober, aufs Garagendach, an den Waldrand, zu den Ribiseln oder um ein paar Schnittblumen aus den sorgsam gepflegten Beeten der Großmutter zu holen, musste man unten durch. Durch den so genannten „Durchlass“. Das war ein kleiner Tunnel der zweihundert Meter vom Haus entfernt die Trasse unterquerte.
Damit war man gleich auf der sicheren Seite. Und feig.
Oder man musste eben oben drüber. Bot dem potenziellen Eindringling mit seinem Getöse Parole und querte die Bahnlinie direkt vorm Haus.
Wehe dem, der von den Grossen dabei erwischt wurde.
Es war ein galaktischer Spaß. Der süßeste aller Nervenkitzel.
Selbst, wenn kein Zug weit und breit heranzunahen drohte. Noch viel mehr, wenn die Geleise und Oberleitungen einen undefinierbar weit entfernten Zug ankündigten. Man konnte ihn nicht sehen, er war noch irgendwo weit weg hinter der übernächsten, oder schon näher, hinter der nächsten Biegung. Man wusste nicht, würde er von rechts oder von links kommen. Nicht einmal die ständigen Bewohner hatten sich die Mühe gemacht Fahrpläne auswendig zu lernen. Man konnte ihn nicht richtig hören. Oder erst ganz zum Schluss, wenn er schon anrauschte, zu nah schon. Kein Donnern etwa oder ein Pfeifen, vom Lokführer vorausgeschickt, die Schienen vor ihm freizuhalten.
Nur dieses metallische Singen. Die leise Ankündigung eines Ungetüms. Einer eisernen Walze, die unaufhaltsam war.
Den Lokführer betrachtete man ohnehin eher als Staffage zur Beruhigung. Was würde der bewirken, gegebenenfalls, angesichts der Wucht in seinem Rücken?
Zu viele amputierte Hauskatzen hatte man begraben, so von ihnen überhaupt nennenswertes übrig geblieben war, als dass man sich Illusionen gemacht hätte.


Und dann lief man los. Lief über die hölzernen Stege, gerade zwei erwachsene Füße breit und wacklig genug, vom Großvater angelegt für die Großen und die Mutigen. Stellte sich im Rennen vor, wie es wäre, in diesem Moment mit der Sandale hängen zu bleiben in einem Spalt zwischen Schiene und Schotter oder über eine Holzschwelle zu stolpern und nicht rechtzeitig weiterzukommen.
Und der Zug! Der Zug!


Es war ein köstliches Vergnügen.
Drüben im Blumengarten, beim Heuschober, am Waldrand und bei den Ribiseln anzukommen und Luft zu holen.
Denn den Atem hatte man unwillkürlich angehalten
die ganze Zeit.


--Für Sonja--
nachsendeauftrag - 17. Dez, 13:03

Da war jetzt 1 Tränchen / Auge!
Danke!

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