Knospenmotten

-Die Arbeit der Nacht-
Wenn sie im Finstern erwachte,
Schwärze ringsum und über ihrem Kopf der schwebende rote Punkt, das ewige Licht, mit einem Piktrogrammweibchen in seinem Zentrum, erinnerte sie sich an ihre zweitliebste Vorstellung von damals:

Zurückgelassen, eingeschlossen in ein Warenhaus, über Nacht oder besser noch über zwei Tage und Nächte, das ganze Wochenende lang, schwelgte sie begierig in all den Dingen, von denen sie annahm, sie zu besitzen bedeute pure Glückseligkeit. In der verbesserten Version, "Zurückgeblieben.1.02", wurde das Wochenende zu Monaten und Jahren, bis sie schließlich der letzte Mensch überhaupt war. Zurückgelassen in einer Warenwelt, in einem wahren Schlaraffenland, in dem sie sich in Schokoladeneis wälzte.

Mit Mühe und unter Ächzen streckte sie dann ihren Arm hin zu dem roten Punkt um das weisse Piktogrammweibchen herbeizurufen und Schokoladeneis zu verlangen.

-Fallen-
Jeden Mittwoch kam eine der Töchter vorbei, sie waren so schwer auseinander zu halten. Das machte sie wütend. Danach tat es ihr leid, wenn sie barsch gewesen war. Wenn sie eine Gemeinheit über eine der Töchter gesagt hatte und sich dann herausstellte, dass die ausgerechnet gegen jene gerichtet war, die gerade an ihrem Bett gesessen und ihr vorgelesen hatte. Aber das Gefühl verflüchtigte sich ebenso rasch, wie die Gesichtszüge ihrer Töchter verschwammen, und zurück blieb das verstümmelte Echo eines schlechten Gewissens. Das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben und nicht zu wissen was. Weil sie das depressiv werden ließ, verabreichten ihr die hellblauen Pfleger passende Pillen. Aber so einfach war es nicht.

Ein Gedanke beschäftigte sie an diesem Mittwoch nachdem ihre Tochter abgezogen war besonders, ein Textfetzchen aus dem Buch, das die Tochter ihr gerade vorlas. Es haftete in ihrem Hirn wie ein Stück Tixo, das man von einer Hand zur anderen fitzelte und nicht los wurde: Der Grund, so hieß es in dem Text, weshalb manche kleinen Hunde ohne Rücksicht auf Leib und Leben weit größere, kräftigere Artgenossen angriffen, läge in einem Größe-Gen und in Folge an einem Zuchtfehler. Diese kleinen Hunde seien überzeugt, sie wären immer noch groß und mächtig. Genau so ginge es auch dem Lande Österreich.
Sie hatte laut aufgelacht, als sie das hörte.
Nun aber taten ihr die Hunde in ihrem Größenwahn leid.
Deswegen weinte sie.
"Die Arbeit der Nacht" war der Titel des Buches, aber wer ihr daraus vorgelesen hatte, begann ihr bereits zu entgleiten. Nur, dass es die Menschen mochten, wenn sie lachte, wusste sie.
Deswegen lachte sie.


-Der Kreis schließt sich-
Als sie endlich in dem hohen Pflegebett lag, erinnerte sie sich an ihre Lieblingsvorstellung damals, das quietschende Stockbett mutierte darin zur uneinnehmbaren Bastion gegen alle Unbillen der Welt, die da waren: peitschender Sturm und Schneegestöber, Hochwasser, Erdbeben und die Angriffe wahlweise böser Nachbarskinder oder glutäugiger Monster. Sie, im Obergeschoß des Bettes, wie auf einer Burgzinne, eingehüllt in die Decke und bis an die Haarspitzen verborgen, fühlte sich überlegen und sicher, der Ansturm des Bösen verursachte ein angenehmes Kitzeln in der Magengrube, eines, das man gern und wiederholt aus seiner Höhle lockte, wenn man sich in Sicherheit wiegte. Die ältere Schwester musste eine Etage tiefer ausharren, in dem der Gefahr weit eher ausgesetztem Parterre. Sie hatte wegen ihrer Beleibtheit von der Mutter diese Koje zugeteilt bekommen. Die Alten glauben immer, Kinder kriegen Ungerechtigkeiten nicht mit und auch nicht, wie die Liebe aufgeteilt wird.

Wenn sie nicht Schlafen konnten, drehten sich beide zur Wand hin, wo ein schmaler Spalt Raum zum Durchflüstern ließ. Zugedeckt und abgeschirmt zur Aussenwelt säuselte die Schwester aus dem Obergeschoß jener im Untergeschoß dann wirre lange Geschichten zu, die sich erst im Erzählen eigenmächtig entsponnen, sprangen, von einem Satz zum nächsten, sodass die Erzählerin sich selbst vom Fortgang der Ereignisse überraschen lassen konnte. Um Fahrten zum Mond und zu den Sternen oder wilde Fluchten übers Meer mit ihrem schwankenden Schiff ging es, solang, bis die Mutter ihr fünftes "Schlaft jetzt!" durch die geschlossene Tür schickte. Zorniger Wind.

Ihr Haar lag wie Gespinst auf dem hohen Krankenbettkissen, man konnte es nur ausmachen bei genauem Hinsehen, so weiss war das Kissen, weiss wie das Haar und die durchsichtige Haut.

Als die Gestalten in den hellblauen Kitteln verschwommen sich näherten spürte sie wieder das schaurige Kitzeln. Sie wusste gleich, die würden ihr nichts anhaben können. In ihrer Bastion war sie sicher.

---
walhalladada - 9. Nov, 21:33

Es zieht ,

in Ihrer Erzählung...und zwar mich rein!

Was für ein Gespinst die Erinnerung doch darstellt!
Sie ermöglicht der Vergangenheit, sich in der Gegenwart als 'Gegenwart' zu entpuppen...daher rührt der Schauer...
Das heißt, Sie können das!
Und das finde ich großartig!
Außerdem passt es zu dem , was ich einmal bemerken zu können glaubte berechtigt zu sein:

'Die 'Erinnerung' ist derjenige Reflexionsmodus, der das Wasser des Erlebnisses in den Wein der Erfahrung verwandeln kann'!
Sie schenken in diesem Sinne ganz 'reinen Wein' ein!

Nachtbriefkasten - 12. Nov, 12:46

Der Zug der Zeit...

Frage: Kann man die Zukunft auch erinnern?
Theoretisch, ja. Nicht wahr?

P.S.: Danke für die positive Kritik.
walhalladada - 12. Nov, 15:00

Mit einer gewissen Emphatie kann man sich sogar an seinen "GOTTSEIBEIUNS" erinnern...

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das glaub ich jetzt nicht;)
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walhalladada - 12. Feb, 19:05
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Tanzlehrer - 31. Aug, 22:35

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