Blaupausen

Donnerstag, 16. November 2006

Essen reloaded

Mittlerweile weiss man ja, weshalb der Großvater diese rüpelhafte Art hat, seine Suppe zu schaufeln. Er fürchtet, die Russen könnten jederzeit wiederkommen um das ganze schöne fettige 50er-Jahre Essen abzufassen. Doch was weiss schon eine Halbstarke mit zwölf. Was ahnt die von Opas Hunger. Mutter hingegen schlürft mit Hingabe und in einem einzigen mächtigen Zug den Hesperidenessig aus der Salatschüssel, nachdem das Grünzeug darin ertränkt und aufgegessen ist. Davon bekommt man Würmer, ekeln sich die Tanten, die lieber Knochen knacken, Suppenknochen. Sie legen das Mark frei, gebrochenweiss zittert es dann, als ob es friere oder wie in Todesangt, auf dem vom vielen Abwaschwasser gespalteten Holzbrett. Gegessen wird es mit Salz und Peffer und Lust.
Wenn es sich gar nicht anders ausgeht, wird statt des ganzen Schweinekopfes zu Silvester nur die Schweinsnase, der Rüssel, gekocht, in Würfel geschnitten und kurz nach Mitternacht verspeist. Das soll Glück bringen, hat mit Hunger nichts zu tun. Die Nasenlöcher eines gekochten Schweinskopfs fühlen sich unwiderstehlich an, das Grausen wohnt wo anders. In zu Tode gedünstetem Kraut mit Kümmel oder in Eiernockerln wie Gummibälle. In der Haut, die auf wiederabgekühlter Milch schwimmt und einem beim arglosen Trinken an den Lippen kleben bleibt. Im Salat mit den fingerdicken Wurstscheiben, mit Zwiebeln und Öl. Hinter dem Grausen lauert das Erbrechen. Es lauert, traut sich gleichwohl nur selten heraus. Zu stark, zu wenig zurückhaltend, fürchtet es, sei die Aussage, die sich sonst in manifester Form über den Küchen-PVC ergießen würde. Man will sich nicht in den Vordergund spielen, nicht zu sehr. Man quält seinen Besitzer mit Brechreiz, nur ein wenig, als würde einem jemand fortwährend hinterrücks auf die Schulter tippen und säuseln:
Du, Du ich bin da, da, gleich hinter Dir, gib acht, wenn Du nicht aufpasst, aber dann..

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Sonntag, 4. Dezember 2005

Ein Sack Mehl

Der BMW rollte im Leerlauf auf den Parkplatz der besonders bei Bobos angesagten Appartementanlage. Er stieg aus und genoss dabei wie immer das satte Geräusch, das die Autotür beim Zufallen machte. Das klang nach dicker Brieftasche. Nicht so hohl und hysterisch wie bei all den Blechbüchsen auf Rädern. Keiner würde es hören, bei dem Verkehrslärm, der von der Straße her dröhnte. Er beugte sich über den offenen Kofferraum, um den Sack Mehl,
den er vorhin darin verstaut hatte herauszukramen und sich dann um den Appartementblock herum, den kurzen Hang hinauf, zu den Terrassen zu schleichen, die dort um eine Art halbes Atrium, nach der Seite zum See hin offen, angelegt waren.

Viel blankes Glas überall, die Leute hier mochten keine Gardinen.
Doch es war Dezember und längst dunkel. Keiner, der zufällig aus einem der überdimensionierten Fenster schauen würde, könnte ihn sehen, der würde bestenfalls sich selber im Spiegel der Glasscheibe erkennen können. Vielleicht wäre das auch der einzige Grund, warum einer dieser Bobos hier zum Fenster hin schauen würde. Auf der Rasenfläche im Atrium lag Schnee, nicht viel, höchstens Fingerdick. Aber an der Wand entlang, die Betonplatten und die Platten der Terrassen, die waren sauber gefegt, wie stets. Im Schutz der glatten eisblau verputzen Hausmauer und der nachtschattigen Dunkelheit unter den Balkonen stahl er sich heran an ihre Veranda ganz vorne, kaum zwanzig Meter vom Seeufer entfernt.
Dort streute er den gesamten Sack Mehl gleichmäßig über die Bodenplatten, hielt dann eine Weile lang still um zu horchen, zu lauern, ob jemand ihn etwa beobachtet hatte, versuchte, zwischen den Lamellen der herabgelassen Jalousien ihrer Terrassentür, hinter der Licht brannte und er ihr großes Bett wusste, durchzuschauen und verzog sich dann, als ihm das nicht gelang, zurück,
rund ums Haus und hin zu dem kurzen Treppenabsatz, der zu ihrer Wohnungstür führte.

Beherzt, zwei Stufen auf einmal nehmend, wie um sich Selbstvertrauen zu geben, stieg er den Absatz nach oben.
Sein erstes Klopfen schien ihm zu zaghaft, fast entschuldigend, er schickte dem gleich ein energisches Rattern hinterher, als er ausgiebig den Klingelknopf drückte. Dabei schaute er auf seine Armbanduhr.

Vor gut einer Stunde hatten sie miteinander telefoniert. Ihn plagte Sehnsucht nach ihr, was er ihr so natürlich nicht sagen konnte. Ob er noch vorbeikommen solle mit einer Flasche Wein, hatte er sie gefragt. Man könnte doch gemeinsam ein Gläschen trinken oder zwei und sich eventuell einen langweiligen Film ansehen im Fernsehen. Doch sie hatte abgewinkt. Zu müde sei sie von der Arbeit. Sie sehne sich nur noch nach ihrem Sofa und einem Buch. Na gut, hatte er geantwortet bevor er auflegte und seine Enttäuschung dabei verborgen, man sieht sich ja am Wochenende.
Dann hatte er die Flasche Wein, seine Zahnbürste und den Sack Mehl genommen und sich auf den Weg gemacht, die fünfundvierzig Kilometer zu ihr, über die arschglatte und um diese Jahreszeit durchwegs völlig vernebelte Autobahn.

Seit sieben Jahren kannten sie einander. Warum sie trotzdem noch immer nicht gemeinsam wohnten, konnte er sich nicht erklären. Aus ihrer Sicht hatte es sich einfach nie ergeben, zu weit voneinander entfernt die Arbeitsplätze, zu kompliziert das alles. Aber es ging ihnen doch sehr gut so. Aus ihrer Sicht.

Als sie die Wohnungstür öffnete, und sie öffnete rasch, obwohl sie keine war, die Überraschungsbesuche besonders leiden konnte, als sie also öffnete, war sie im Trainingsanzug. Locker sah sie darin aus, lässig. Ungeschminkt, das Haar auf perfekt schlampige Art hochgesteckt, war sie eine von jenen, die im Schlabberlook besser aussahen als in förmlicher Kleidung.
Er biss sich auf die Unterlippe, brachte ein halbes Lächeln zustande und ein Schulterzucken, als er ihr die Weinflasche, wie ein Schutzschild entgegenstreckte. (Ein guter Rotwein von der gediegenen Sorte aus Frankreich. Auf Experimente wie sie jetzt so beliebt waren, Weine aus Südafrika oder gar Chile, ließ er sich nicht ein.)

Mit einer ergebenen Geste, so als würde sie sagen wollen, na gut, wenn Du schon mal da bist, oder, weil’s Du bist, ließ sie ihn herein. So wie sie dabei im Türrahmen zur Seite trat, brachte sie ihn dazu, sich noch heftiger auf die Unterlippe zu beißen. Drinnen -Wärme und der Geruch nach Zimt- räumte sie flink ein paar Zeitschriften, Bücher und ihre zwei riesigen Wolldecken, die sie immer brauchte, wenn sie es sich daheim gemütlich machen wollte, von ihrem mehlweißen Sofa. Sie schmiss den ganzen Haufen auf ihr großes Bett hinten im Appartement und kam dann wieder, um die Weinflasche zu entkorken.

Er beobachtete sie, ihre geübten Handgriffe mit dem Korkenzieher, die Gelassenheit ihrer Bewegungen, als sie sich die zwei Weinkelche aus dem Küchenregal griff, sich die Haarfäden dabei aus dem Gesicht strich. Sein Gewissen rumorte, war sauer und stieß ihm auf, wie seit zwei Monaten abgelaufene Milch.

Man wechselte nur wenige Worte, wie das eben ist, bei großer Vertrautheit oder wenn man sich zu lange kennt. Sie tranken Wein und schauten sich dabei einen einfältigen Film im Fernsehen an, bei dem jeder seinen eigenen Gedanken nachhängen konnte ohne den Faden zu verlieren, weder den der eigenen Gedanken, noch den des Filmes. Er beobachtete sie von der Seite, wie sie da auf dem Sofa fläzte, sich entspannte, ihren Wein zu genießen schien. Er ließ die Blicke gewollt träge durch ihr Appartement schweifen, auf der Suche nach... Nach etwas. Nach einem Anzeichen, das es ihm erlauben würde, sich richtig elend aber nicht ganz so schuldig zu fühlen. Es gab keines.
Später schliefen sie zusammen in ihrem geräumigen Bett. Keine große Sache, man kannte sich schließlich nicht erst seit gestern.

Frühmorgens musste er los. Wie üblich, musste er um acht bei der Arbeit sein. Stockdunkel war es noch draußen und es hatte wieder begonnen zu schneien. Einzelne Flocken trödelten vom Himmel, so als wären sie gelangweilt, als würden sie auf ihre säumigen Spielkameraden warten, die noch oben waren.

Er verabschiedete sich nur kurz von ihr, wollte sie nicht richtig wecken.
Sie blinzelte ihn an, wie eine müde Katze, drehte sich zur Seite und schien gleich wieder einzuschlafen. Eine ganze Stunde hatte sie noch, bevor auch sie raus musste.

Auf Socken schlich er zur Wohnungstür, die Zahnbürste im Mundwinkel und die Stiefel in der Hand. Vor der Tür zog er sich die über und ging hinunter auf den Parkplatz, hin zu dem von Frost und frischen Schneeflocken weihnachtlich glitzernden Auto. Beinahe hätte er dabei schon begonnen ein Liedchen zu pfeifen, hielt dann aber im Gehen inne, abrupt, als wäre ihm im letzten Moment etwas in den Sinn gekommen, das er beinahe vergessen hätte.
Kurzes unentschlossenes Zaudern. Dann wandte er sich um, ein ironisches Lächeln im Gesicht, und lief, wie bereits am Vorabend, um den Block herum, in das Atrium und hin zu ihrer Terrasse, hin zu dem Haufen Mehl, den er vor ihre Tür gekippt hatte und in dem er jetzt deutlich die großen schweren Schuhabdrücke erkennen konnte.

Förmlich zertreten hatte jemand das Mehl vor der Tür. Und dann war er wohl gegangen. Die Spuren führten weg über die Terrasse und verloren sich im Neuschnee.


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Dienstag, 25. Oktober 2005

Flugrost

Man darf sich den Ort nicht vorstellen, wie man sich gemeinhin ländliche Orte
in den Alpen vorstellt.

Ganz oben sägten die Arbeiter der Forste hässliche Schneisen, wie Schmisse, in die ohnedies schon unansehnlichen Fichtenplantagen.
Triste Monokulturen dunklen Nadelholzes.
Keine Landwirtschaft, höchstens ein zwei karg lebende Bergbauern und so gut wie keine der sonst in diesem Landstrich weit verbreiteten kuckucksuhrenartigen Einfamilienhäuser. Stattdessen alte oder uralte Zinshäuser. Genossenschaftsbauten. Aber nicht jene grossartigen und eleganten der Art,
wie sie in Wien zu finden waren. Lang gestreckte Arbeiterwohnheime, zweigeschossig, eingezwängt zwischen die steilen Hänge des Tales. Diese Hänge wurden nicht gemäht oder von Kühen abgegrast, wie in bäuerlichen Gemeinden und lagen deswegen das ganze Jahr über mausbraun, zerzaust und struppig da, wie das Haar der Hippies, die zu der Zeit so modern waren, aber ganz woanders. Bestenfalls ging die freiwillige Feuerwehr einmal jährlich, im Frühling, daran die ungepflegten Matten abzufackeln und damit alles was darin lebte.
Bevor die Wiesen dann zu grünen begannen, blieben sie eine ganze Weile kohlschwarz.
So, wie die paar Bauern und einige Fromme, die sonntags besonders eifrig in die Kirche gingen. Nachbarn und Eltern schimpften die hinter vorgehaltener Hand „die Schwarzen“. Für die Kinder ein besonderes Faszinosum, waren die doch nicht merklich schwärzer als man selbst, weder am Hals noch unter den Fingernägeln. Also musste deren Schwärze woanders liegen. Vielleicht innen. Das war naheliegend. Vielleicht hatten die schwarze Seelen, gruselten die Kinder sich lustvoll und starrten den „Schwarzen“ und vor allem deren bedauernswertem Nachwuchs hinterher. Die Informationen waren spärlich und das Wissen vage genug, dass sie sich die wildesten Geschichten vom Leben der schwarzen Kinder ausmalen konnten. Von Gebets- und Bibelstunden frühmorgens unter dem drohenden Herrgottswinkel, bis hin zu mittelalterlichen Folter- und Bestrafungsritualen, wie dem Knien auf Holzscheiten oder Fernsehverbot, sollten die armen sich einmal nicht gewissenhaft an die Regeln der Frömmigkeit halten.


An mehreren Stellen der abschüssigen Hänge rund um den Ort endeten etwas mehr als mannshohe Stollen wie offene Adern eines riesenhaften Tieres. Die Stollen führten in den Berg hinein und aus ihnen heraus liefen schmalspurige Geleise. Da und dort stand noch ein Erzhunt auf oder neben den Schienen. Hunte, das waren kleine gedrungene Wägen mit denen früher das Eisenerz durch den Berg nach unten in den Ort geschickt wurde, allein mithilfe der Schwerkraft. Die Abhänge waren bei weitem steil genug dafür. Am Ausgang der Stollen endeten früher die Schienen nicht so abrupt wie mittlerweile, sie führten die Hunte weiter auf abenteuerlich aus dem Hang herausgebauten dünnbeinigen Holzbrücken und mündeten schließlich an einer Erzhalde, die, eingefasst von Kalksteinmauern, riesige Ausmaße hatte. Halbverfallen bargen die Erzhalden inzwischen Tennis- und Fussballplätze, das alte Gemäuer bot Platz für die Tribünen. Für die wenigen Gäste, meist japanischer Herkunft, die sich in erster Linie wegen der mit Dampfloks bespannten Erzzüge hierher verirrten, gewiss ein malerischer Anblick.
Für die Kinder waren die Bauten vor allem alt und schäbig. Man genierte sich beinahe dafür und fragte sich, warum die Japaner nicht lieber die eben eröffnete neu erbaute Turnhalle fotografieren wollten.

Sauste früher also einer der Erzhunte durch den Berg nach unten, dann tat er das die letzten paar zehn Meter, um sich ein wenig einzubremsen, auf diesen
auf Stelzen und wagrecht aus dem Berg gebauten Schienen um letztlich von einem Puffer gestoppt und so in Übergewicht und zum Kippen gebracht zu werden, dass sich das Eisenerz in die Halde entleeren konnte. Von da ging es dann weiter mit dem Erz, zum Rösten in die Hochöfen. Damals schier unersättliche Wunder der Technik, die man mit Sauerstoff und jeder Menge Holzkohle bei Laune halten musste. Darum prägten weiter oben im Ort die Kohlemeiler, jene mit Erde, Gras und Moosen luftdicht verpackten Haufen, das Bild und den Geruch des Ortes, während und auch schon lange bevor es zur industriellen Eisenproduktion kam. Und die Wasserräder, die ihre Energie dem nahen Bach abrangen, ohne dass der sein abwärts Streben groß verlangsamte, trieben die Blasebälge an. Die Lungen der Hochöfen, die das Feuer bei Atem hielten. Doch diese Meiler, Stollen Brücken und Öfen waren zur Zeit der japanischen Besucher längst stillgelegt.

Heute - Relikte aus der Vorvergangenheit. Relikte aus der Zeit der Radwerke und Radmeister, der Zeit Erzherzog Johanns. Der kleinere Bruder des Kaisers und große Gönner des Ortes. Der eine Postmeisterstochter zur Frau nahm, wie jeder weiss und sich auch sonst recht volksnah gab. Eine Zeit relativen Wohlstands, wie einige, die auch nicht weniger wussten als die übrigen, immer wieder gerne erzählten. Die alten Radwerke mit den Wasserrädern und Hochofentürmen und die Wohnhäuser der Radmeister standen und stehen tatsächlich noch zwischen den Mietshäusern und man konnte sich den Prunk, wenn man sich all das Abgebröckelte hinzudachte, gut vorstellen. Der Wohlstand der Radmeister war damit belegt. Wenn die alten Arbeiterhäuser, was anzunehmen war, aus der selben Zeit stammten, war auch rasch erwiesen, dass der Wohlstand tatsächlich sehr relativ gewesen sein muss.

In der Zwischenzeit wurde das Eisenerz aber längst mit dem Zug, besagter Erzbergbahn vom Berg ins Tal und zur weiter südlich gelegenen Hütte gebracht. Erst noch gezogen, geschoben und gebremst von einer oder manchmal auch zwei Dampfloks vorne und hinten am Zug, unterstützt von an den Loks montierten Zahnrädern, die in die zwischen den Schienen liegenden Zähne griffen, da
das Gefälle der Strecke anders nicht zu bewältigen gewesen wäre.
Später übernahmen diese Arbeit Dieselloks, bevor der Abbau am Berg und damit auch die Bahnstrecke zuletzt ganz eingestellt wurde.

Der Ort war mehr und mehr in den Ruhestand geschickt worden, im Lauf der Zeit. Er war auf dem absteigenden Ast. Die eisernen Reserven gingen zur Neige.
Erst war er zum Schlaf- und Wohnort geworden für die Familien und deren Männer, die Tag um Tag und Schicht für Schicht zur Arbeit an den Hochofen fuhren, um das Erz, das andere oben aus dem Berg holten, zu Drahtrollen und eisernen Strängen zu verarbeiten.
Nur ein paar Jahre später brachten es die Bedingungen der Zeit mit sich und es wurde noch stiller in dieser Gegend.

Für die Kinder der Arbeiter bot der verfallende Ort jedoch abenteuerliche Spielplätze. Höhlenexpeditionen nannten sie ihre Ausflüge in die alten Stollen, die damals noch nicht von den humorlosen Gittern unzugänglich gemacht waren, die man, als dies und das passiert war, Kinder sich einen oder mehrere Kratzer geholt oder sich heimliche Liebespaare in die Stollen vorzogen hatten, um dort wer weiss was zu treiben, an den Eingängen angebracht hatte.

Konnte man zuhause eine Taschenlampe stibitzen war das bereits die halbe Miete. Dann zog man los mit ein paar anderen Kindern, auf in die Finsternis.
Es wäre gelogen zu behaupten, dass man sich nicht beinahe in die Hosen gemacht hätte vor Angst. Man wollte sich von der Furcht nur nicht unterkriegen lassen.

Im äusseren Bereich der Stollen war es noch recht hell und geräumig, dafür umso unappetitlicher. Wanderer oder spätnächtliche Heimkehrer hatten hier ihre Notdurft verrichtet und auch sonst lag jede Menge Mist und Gerümpel herum. Weiter drinnen aber wurde es eng. Und wirklich finster. Man kreuzte mit Gewissheit den Weg mehrer Ratten, doch der Lichtkegel der Taschenlampe war einem gnädig und leuchtete nicht alles aus, was in den dunklen Winkeln nistete. Ein fremdes Geräusch dann, und derer gab es da drinnen viele, angefangen mit dem Wind, der durch unsichtbare Kamine pfiff und jammerte, das reichte aus, einen in wilden Schrecken zu versetzen.
Dann ging es los. Erst die Kehrtwende und dann die kopflose Flucht, bloß heraus aus dem Schlund. Die Panik kitzelte einen in der Magengrube, ein merkwürdiges Gefühl, halb Lust, halb Horror, und man war nicht sicher ob man hysterisch lachen oder nicht doch lieber schreien wollte.

Dem Spaziergänger, der nichts ahnend womöglich gerade an so einem Stollenausgang vorbeikam, konnte das Geschrei, das die Horde Kinder den eigenen viel zu langsam rennenden Beinen vorausschickte, bestimmt das Fürchten lehren.
Draussen angekommen, lebendig und mit nur wenigen blauen Flecken und Kratzern, über und über voll Dreck wurde zuallererst einmal gelacht.
Gelacht, um mit der verlachten Luft den Schrecken aus den Eingeweiden zu jagen.

Montag, 10. Oktober 2005

Moosnester

Einmal die Woche, samstags, stieg man die fünf Treppen hinunter in den Keller. Man durchlief lange Gänge deren Böden mit Gussasphalt versiegelt im Halbdunkel lagen. Lediglich kleine Luken weit oben auf einer Seite der entfernten, in der Finsternis verschwindenden Decke, schickten mutloses Licht nach unten.

Man hangelte sich mit den Blicken, einem mittelmäßigen Trapezkünstler im Zirkuszelt gleich, die Heizungsrohre entlang, die dort droben mehr erahnt denn gesehen werden konnten. Beängstigend hoch, ewig lang und düster erschienen einem die Gänge im Kellergeschoß des umfangreichen Gebäudes das ein Schulhaus war. Darum erstreckten sich auch seitlich Holzbänke entlang der staubigen Wände und darüber zogen nun in raschem Rhythmus Kleiderhaken vorbei, an denen vereinzelt zurückgelassene Turnbeutel oder einsame Plastiksäcke hingen. So eilig, wie die Mutter einen am Arm durch die finsteren Gewölbe zog, weiter bis in Sphären, in die man später, als Schulkind, nie mehr würde vordringen, die einem in dieser fernen Zukunft nicht einmal als in dem selben Gebäude befindlich bewusst sein würden.
Durch mehrere eiserne Feuerschutztüren ging es weiter in Räume die etwas heimeliger anmuteten als die Treppen und Gänge zuvor. Tür an Tür reihte sich hier aneinander, links und rechts bis hin zur nahen Stirnseite des Raumes in dem man schließlich angekommen war.

An jeder Tür, knapp unter der Klinke, ein blecherner Kasten mit Schlitz, in einen von denen die Mutter jetzt ein Geldstück fallen ließ. Hohles Geklimper, wie leere Sparbüchse. Nicht satt, wie Münze an Münze. Der Türgriff wurde von der Mutter energisch nach unten gedrückt und noch einmal klapperte es in dem Opferstock, als wollte der sich höflich bedanken oder sagen
„Treten Sie näher, meine Damen.“
Die nunmehr aufgestoßene Tür gab den Blick frei auf eine altertümliche Brause, montiert an eine Wand voll vergilbter Kacheln und auf ein betagtes rissiges Stück Seife, das entgegen den Gesetzen der Schwerkraft an einem aus dieser Wand ragenden Bolzen zu haften schien. Das lag an dem kleinen Magneten den man in die nachgiebige Seite des Seifenstücks gedrückt hatte und der dieses nun in Stellung hielt. Ein ausgefranster Badeschwamm in einem Drahtkorb an der Seitenwand der Duschkabine ergänzte das Ensemble biederer Reinlichkeit.

Die Mutter begann rasch, beinahe ungeduldig, die Tochter zu entkleiden. Und während diese dann mit eingerollten Zehen frierend auf dem glaskalten Fliesenboden stand und wartete, entledigte sich auch sie ihrer Kleidung. Geschwind wurden noch Schuhe und Kleider auf der Pritsche vor den Duschkabinen geordnet und in akkuraten Stapeln zurückgelassen, die Tochter schließlich vor der Mutter her in die Duschkabine gescheucht und die Tür hinter den beiden zugezogen.

Ein Hauch klaustrophober Panik flog die Tochter jedes Mal an, bei dem Gedanken, die Mechanik könnte versagen und die Tür sich als Folge dessen nur noch mittels Münzeinwurf von aussen öffnen lassen. Wenn keiner käme, sie zu retten, würden sie hier drinnen in der beengten Zelle gewiss verhungern, dachte sie. So doch einer käme, rechtzeitig um sie zu befreien, würde dieser Retter sie beide nackt zu sehen kriegen. Ein Gedanke, der sie noch mehr gruselte, als der, hier eingeschlossen mit ihrer Mutter langsam zu verrecken.
Ihr Blick huschte jedes Mal besorgt nach oben, dahin wo die Wasserleitung in dem Brausekopf mündete. Und stets stellte sie fest: Die Wände der Kabine hatten ein Ende. Und zwar weit unter dem Plafond des Kellerraumes. Sie würden sich also selbst retten können. Gegebenenfalls. Auch wenn sie sich nicht vorstellen mochte, wie. Trotzdem kitzelte sie die Vorstellung immer wieder aus ihren Gehirnwindungen, so wie man einen schmerzenden Zahn immer wieder mit der Zunge antippt um nachzuschauen ob er noch da war, der Schmerz.
Eine Räuberleiter mit ihrer Mutter? Sie würde an ihrer nackten Mutter hinaufklettern, wie an einem viel zu glatten Baum, und dann? Wie würde sie, oben angekommen, den Abgrund der sich ihr auf der anderen Seite der Kabine auftun würde meistern? Etwa springen? Und was viel wichtiger war: welchen Anblick würde sie ihrer Mutter bieten, nackt da oben auf dem dürren Scheitel der Kabinenwand hockend, wie ein Huhn? Lachhaft. Nein, sie mochte es sich nicht vorstellen und starrte stattdessen lieber auf den nicht minder unheimlichen Abfluss, der quadratisch mit küchensiebähnlicher Abdeckung in der Mitte des Duschkabinenbodens eingelassen war. Und von dem man verstörenderweise nicht ahnen konnte, wohin das darunter verborgene Rohr führte. Was, wenn man den Deckel abnähme.. ob der Schlund einen..

Zum Glück holte sie das nun hart herabprasselnde, an ihr herunter rinnende und in diesem Abfluss wie in dem saugenden Maul einer extraterristischen Lebensform verschwindende heisse Wasser zurück in die Wirklichkeit.

In die feuchte Wärme, in die Dampfschwaden und zu dem Anblick, der sich jetzt mit aller Macht in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit drängelte:
Dem dichten Haarbusch ihrer Mutter.
Gerade in Augenhöhe und so in bester Position zu eingehender Betrachtung tanzte der mit den Bewegungen der Mutter einhergehend vor ihrem Gesicht.
Sanft verschleiert nur durch den Tröpfchennebel wurzelte das dunkle Haarnest, unbegreiflich für die Tochter und zugleich auch selbstverständlich, dort in dieser merkwürdigen Gegend des mütterlichen Leibes. Unbegreiflich ob ihrer eigenen schneckenartigen Nacktheit an dieser Stelle. Und geheimnisvoll. Weil dies ein Mysterium war, das sie selbst später, viel später, ebenfalls heimsuchen würde:
Haarwuchs an den an sich schon ungehörigen Geschlechtsteilen.

Sie überlegte, wofür dieses Haar denn gut sein konnte, an einer Stelle die stets sorgfältig verhüllt war, die weder den grimmigen Temperaturen des Winters noch je einer brennenden Sonne ausgesetzt sein würde.
Sie kam zu keinem Ergebnis. Die Mutter danach zu fragen nahm sie sich vor, jedes Mal wenn sie am Badetag gemeinsam in den Keller hinunter stiegen.
Sie wagte es nie. Bis zu dem Zeitpunkt da sie es dann ohnehin wusste, nicht.
Zuviel Scheu vor dem vermeintlichen Geheimnis das sich dahinter verbergen konnte. Ein Geheimnis ahnte sie verworren, das die Frauen rund und weich machte, das sie mütterlich werden und Kinder kriegen ließ. Sie fürchtete, dass irgendeine Zauberei, eine Abmachung zwischen den Frauen die dahinter stecken könnte, sie mit ihren naseweisen Fragen bloß stören würde.

Langsam mischte sich nun blasiger Seifenschaum in die dunkle Masse des Haarnestes, das vor ihr hing, wie durchweichte Moosflechten während eines Wolkenbruchs. Die Mutter wusch sich. Sie tat dies mit dem groben Lappen den sie mitgebracht hatte und mit genauso groben Bewegungen. Schleunig musste es gehen. Kein vorsichtiges Innehalten an den zarteren Stellen ihres Körpers.

Der Blick der Tochter glitt am Körper der Mutter nach oben, der Nabel, wie ein missmutig verzogener kleiner Mund im leicht gewölbten Bauch, feste Brüste mit lederartigen fast schwarzen Brustwarzen und die Achseln, die die Mutter jetzt ihrer Abreibung unterzog: auch hier das zwecklose Haar.
Alles ging gewissenhaft, feinsäuberlich und zielstrebig vor sich. Das ganze Waschen. Vom Kopf bis zwischen die Zehen.

Danach war die Tochter an der Reihe. Mit der gleichen Sachlichkeit, wie die Mutter sich selbst behandelt hatte, wurde nun die Tochter abgerieben bis die Haut sich rosig färbte. Zuletzt löste die Mutter die locker geflochtenen Zöpfe der Tochter um ihr das Haar gründlich zweimal zu waschen und zu spülen.
Mit dem nüchtern riechendem Shampoo. Auf der Flasche war ein Schmetterling zu sehen. Ob der nasse Flügel bekommen durfte? Wenn es ein Zitronenfalter wäre, würde das Shampoo dann nach Zitronen riechen?
„Was weiss ich. Du stellt Fragen. Es ist kein Zitronenfalter.“
Kein Innehalten. Auch jetzt nicht. Schon wurde das Wasser in üblicher Eile und unter erschrecktem Quietschen der beiden Mischhebel von den geschäftigen Händen der Mutter abgedreht. Quie – quie – quiek!
In der plötzlichen Stille des Raumes hallten die wenigen und rasch gesprochenen Worte der Mutter überraschend laut nach und sogar die letzten nachzüglerischen Tropfen produzierten ein Echo, wenn man nur genau genug hinhörte.

Die Füße bereits ein wenig aufgequollen – Froschhaut nannte man das wohl, obgleich Frösche im Wasser doch gar nicht aufquollen – tappte die Tochter hinter der nassen Mutter her aus der Duschkabine und wurde von dieser mit einem großen, schon fadenscheinigen Badetuch, das sie zuvor auf den Heizkörper gelegt hatte, umhüllt und kräftig abfrottiert.
Ein Schwall trockener Wärme umgab dank dieser fürsorglichen Geste die Tochter
und ließ sie minutenlang die düstere Abgeschiedenheit der Kellerräume vergessen. Zu guter letzt flocht die Mutter ihr das nasse Haar zu zwei dicken festen Zöpfen und band sie mit einem einfachen Gummiring zusammen. Ein immergleiches Ritual an ihrem Badetag. Die Tochter liebte die Wasserwellen, die am nächsten Tag ihr Haar wie das eines Engels aussehen lassen würde, wenn es nur nicht so braun, wenn es nur golden gewesen wäre.

Wieder angekleidet, durchwärmt und mit sauber glänzenden Gesichtern, sogar die Gesichtszüge schienen ordentlicher, aufgeräumter zu sein, ging es zurück durch die finsteren Gänge und hinauf über die hintere Treppe, die in den ersten drei Etagen freundlich breit und licht war, ausgelegt mit Linoleum, das in jedem Stockwerk die Farbe wechselte, von einem linden Grün zu Blaugrau und einem blässlichen Rot, vermutlich damit die Volksschüler sich leichter zurechtfinden konnten; das immer roch als wäre es eben frisch eingelassen und auf dem man, nur in Socken ohne Schuhe, prächtig Eiskunstlauf und Wettrutschen üben konnte; stieg weiter hinauf bis zur schmäler werdenden Holztreppe und kam schließlich ganz zuoberst in dem Gebäude in der kleinen Wohnung an, um den für eine Weile fallen gelassenen Alltag wieder aufzunehmen.

Die Gedanken an die Moosnester verloren sich schnell, noch während man auf dem Rückweg aus dem Bauch des Hauses war, genauso schnell wie die Dampfschwaden in dem Baderaum.



-//-für Renate-

Mittwoch, 28. September 2005

Clown auf Durchreise

Wenn er guter Dinge war nahm der Clown einen Kugelschreiber, malte ein Mondgesicht auf seinen vom vielen Schweissen mächtig gewordenen Oberarm, stellte sich in Muskelmannpose vor die Kinder hin und spannte seinen Bizeps an, so fest wie er konnte. Das Mondgesicht verzog Mund und Augen zu einem Grinsen. Die Kinder kugelten sich vor Lachen.

Wenn er einen guten Tag gehabt und nicht zuviel Bier getrunken hatte, nahm der Clown nach der Arbeit ein dickes Stück Eisendraht und schweisste daraus zum Spass Donald Duck, Micky Maus oder eine schnörkelige Blumenampel, die man an die Wand nageln, Geranientöpfe hineinstecken und sich daran freuen konnte. Eigentlich war er nämlich Kunstschlosser.

Wollte er die Kinder zum Lachen bringen, blies er auf einem Grashalm. Man musste genau wissen, welche Grashalme sich dafür eigneten, scharfe Ränder mussten sie haben, so dass man sich damit in die Zunge hätte schneiden können. Breit mussten sie sein, und länger als die eigenen Hände, damit man den Halm auch ordentlich einspannen konnte dazwischen, wie ein Stimmband oder eine Saite. Pfauenschreie und krähende Hähne imitierte der Clown mit seinem Grashalm. Noch weit schrägere Töne entlockte er allerdings seiner Maultrommel, die er so oft er konnte zwischen die Zähne klemmte. Ein kleines Instrument das tönte, als würden sich Österreich und Australien auf halben Wege zu einem bisschen Hausmusik treffen.
Spielte er aber auf seiner Gitarre, dann klangen die Töne anders. Ruhiger und sanfter. So, dass den Kindern ganz komisch zumute wurde manchmal, und man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn die Gitarre diese nicht übertönt hätte, so andächtig lauschten sie dem Spiel des Clowns.

Wenn er übermütig genug war, zeichnete der Clown unter das allergrösste Eselsohr im Schulheft eines der Kinder ein Strichmännchen, das stand ganz gerade, wie ein Soldat. Und obendrauf auf das Eselsohr zeichnete er ein weiteres Strichmännchen, dessen Arme und Beine ausgebreitet waren, sodass es da stand wie ein X mit Kopf. Dann rollte er das Eselsohr über einen Stift und bewegte den schnell hin und her, bis man sehen konnte, wie das Strichmännchen Hampelmannsprünge machte. „So wird der Lehrer hüpfen, wenn er das Eselsohr hier sieht.“, sagte der Clown dazu. Die Kinder glucksten. Und hielten den Clown für einen Zauberer.

Am spannendsten aber waren die Sonntage. An Sonntagen musste der Clown nicht zu seiner harten Arbeit und es gab ausserdem weich gekochte Eier zum Frühstück. Weil die der Clown so gern mochte und weil er sich einen Spass machen wollte, löffelte er manchmal, während er dabei war den Tisch zu decken, rasch das Ei eines der Kinder leer. Dann steckte er die nunmehr hohle Eierschale mit der geköpften Seite nach unten in den Eierbecher.
Die Kinder wussten schon was gespielt wurde, wenn sie ihn da sitzen sahen, grinsend, meist sogar mit etwas Eidotter am Kinn. Sie zappelten vor Spannung, wenn sie ihre Frühstückseier aufklopften, denn jenes, das sein Ei leer vorfinden würde, durfte den restlichen Tag über bestimmen, was angestellt werden würde und war noch dazu vom Küchendienst befreit. So waren die Regeln, gegen die keiner was einzuwenden gehabt hatte. Natürlich versuchten die Kinder anhand des Aussehens herauszufinden, ob man das hohle Ei erwischt hatte oder nicht, aber der Clown ging stets sorgfältig vor, bei seinem Täuschungsmanöver und meinte dazu nur: „Merkt euch das. Von aussen sieht man nicht, ob jemand ein hohles Ei ist.“
Die Kinder konnten nur vermuten. Und je nach dem, ob einem der Sinn nach weichem Ei stand oder es lieber auf den Küchendienst verzichten wollte, wurde spekuliert, verhandelt und regelrechte Tauschgeschäfte wurden abgeschlossen. Zuweilen ging es hoch her am Frühstückstisch.
Man hätte meinen können, ein illegaler Hütchenspieler sei unter den Kindern, so behände wie die Eierbecher die Seiten wechselten.

Gerade als die Kinder sich an den Clown so recht gewöhnt hatten und sich die Tage nicht mehr ohne ihn denken wollten, zog er weiter. So sind Erwachsene. Sie gehen immer dorthin wo das Geld ist, das sie verdienen müssen. Eine große Baustelle in einer entfernten Stadt brauchte Schweisser. Halle hieß die Stadt. Halle an der Saale. Das reimte sich, fanden die Kinder.
Der Clown schrieb ihnen einige Male von dort. Er berichtete von Autos aus Karton und von Straßen, die so viele Löcher wie ein Emmentalerkäse hätten, und wenn man nicht höllisch aufpasste, würde man mit seinem kleinen Kartonauto in eines der Löcher fallen und auf der anderen Seite der Welt, in Australien oder auch in China wieder herauskommen. So schrieb der Clown und die Kinder lasen sich gegenseitig die Briefe vor.

Nicht lang, und die Briefe blieben aus.
Es lohnt sich meist nicht nachzufragen warum Briefe ausbleiben.
So ist das eben.
Vielleicht hatte der Clown auch einfach nicht Acht gegeben und war mit seinem Auto in ein Loch gefallen und in China gelandet.
Oder in Australien.


--Für Sonja und Mirjam--

Freitag, 23. September 2005

Herüben und Drüben

Herüben, das war das Haus mit dem Stall, die Selchhütte und das Blechdach
vor dem Küchenfenster, die Kirschbäume, die Schaukel, der Kletterbaum und der von dem Abfall aus den durchfahrenden Zügen gedüngte Erdbeergarten.
Drüben, das waren die Äpfel und der Heuschober, das Garagendach , die Ribiseln, der Fuchsgraben und der Waldrand.

Nie schlief man besser als in diesen stockdunklen Nächten am Land, während doch der Zug Licht- und Lärmtunnel ins Finstere riss, kaum acht Meter entfernt von unseren Kopfkissen.


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Wenn man sich richtig hochschaukelte mit dem Blick zum Waldrand drüben,
hatte man, sobald einer der schnellen Zweistundentaktzüge durchdonnerte, das Gefühl gleich, in den nächsten Millisekunden, abzuheben und auf dessen Dach zu landen, als könnte man das: Fliegen.
Vielleicht hätte man es nur wollen müssen. Man konnte sich auch aus sich heraus und in die Köpfe der Reisenden hinein denken, die aus den Wagons schauten und deren überraschte Gesichter man beinahe zu gut zu erkennen vermochte.
Man konnte sich vorstellen, wie das Bild für jenen sein würde, der, während er soeben in Zeitbruchteilen einen Obst- oder Gemüsegarten durchquerte zwei gestreckte Kinderbeine seitwärts auf sich zufliegen und kurz vor dem vermeintlichen Crash wieder verschwinden sah.
Es war ein köstliches Vergnügen.
Man konnte sich an der nach Metall, Rost, Schmieröl und Hitze schmeckenden Zugluft mit offenem Mund betrinken. Man konnte sich vom irren Lärm einer drei oder vier Meter entfernt durch den Garten walzenden Eisenbahn betäuben lassen. Man fühlte sich in zweifelhafter Sicherheit.
Das Zweifelhafte war das Gute daran. Gefühle, wie in einer Geisterbahn.

Weniger Spaß als die Reisezüge machten die Güterzüge, da man auf das
Vergnügen der verdutzten Gesichter verzichten musste. Und obwohl die Güterzüge noch martialischer lärmten. Besonders wenn der Zufall -genannt Fahrplan- uns gleich zwei davon aus entgegen gesetzter Richtung kommend zugleich durch den Garten jagte. Wie sie da scheinbar zu knapp aneinander vorbeirasten und es immer wieder gut ging erschien uns wie ein Wunder, das die Fantasie mit einem durchgehen ließ, in der Vorstellung, einmal in der schmalen Senke zwischen den beiden gegenläufigen Geleisen auszuharren bis zwei Züge sich treffen. Der Mut reichte zum Glück nicht soweit wie die Gedanken und die Großmutter hätte uns sowieso zur Schnecke gemacht, hätte man einen davon je laut auszusprechen gewagt. Stattdessen schaukelten wir. Was gänzlich unspektakulär schien, sah man von unserer Fantasie und davon ab, dass die Hochleistungsbahn drei Meter entfernt zu der, vom Großvater noch für die eigenen Kinder gebauten, Schaukel geradewegs und in doppelter Spur durch das Grundstück verlief. Wollte man zu den Erdbeerrabatten lief man schnurstracks den Schotterbahndamm entlang auf einem handbreiten Pfad. Wollte man hingegen drüben zum Heuschober, aufs Garagendach, an den Waldrand, zu den Ribiseln oder um ein paar Schnittblumen aus den sorgsam gepflegten Beeten der Großmutter zu holen, musste man unten durch. Durch den so genannten „Durchlass“. Das war ein kleiner Tunnel der zweihundert Meter vom Haus entfernt die Trasse unterquerte.
Damit war man gleich auf der sicheren Seite. Und feig.
Oder man musste eben oben drüber. Bot dem potenziellen Eindringling mit seinem Getöse Parole und querte die Bahnlinie direkt vorm Haus.
Wehe dem, der von den Grossen dabei erwischt wurde.
Es war ein galaktischer Spaß. Der süßeste aller Nervenkitzel.
Selbst, wenn kein Zug weit und breit heranzunahen drohte. Noch viel mehr, wenn die Geleise und Oberleitungen einen undefinierbar weit entfernten Zug ankündigten. Man konnte ihn nicht sehen, er war noch irgendwo weit weg hinter der übernächsten, oder schon näher, hinter der nächsten Biegung. Man wusste nicht, würde er von rechts oder von links kommen. Nicht einmal die ständigen Bewohner hatten sich die Mühe gemacht Fahrpläne auswendig zu lernen. Man konnte ihn nicht richtig hören. Oder erst ganz zum Schluss, wenn er schon anrauschte, zu nah schon. Kein Donnern etwa oder ein Pfeifen, vom Lokführer vorausgeschickt, die Schienen vor ihm freizuhalten.
Nur dieses metallische Singen. Die leise Ankündigung eines Ungetüms. Einer eisernen Walze, die unaufhaltsam war.
Den Lokführer betrachtete man ohnehin eher als Staffage zur Beruhigung. Was würde der bewirken, gegebenenfalls, angesichts der Wucht in seinem Rücken?
Zu viele amputierte Hauskatzen hatte man begraben, so von ihnen überhaupt nennenswertes übrig geblieben war, als dass man sich Illusionen gemacht hätte.


Und dann lief man los. Lief über die hölzernen Stege, gerade zwei erwachsene Füße breit und wacklig genug, vom Großvater angelegt für die Großen und die Mutigen. Stellte sich im Rennen vor, wie es wäre, in diesem Moment mit der Sandale hängen zu bleiben in einem Spalt zwischen Schiene und Schotter oder über eine Holzschwelle zu stolpern und nicht rechtzeitig weiterzukommen.
Und der Zug! Der Zug!


Es war ein köstliches Vergnügen.
Drüben im Blumengarten, beim Heuschober, am Waldrand und bei den Ribiseln anzukommen und Luft zu holen.
Denn den Atem hatte man unwillkürlich angehalten
die ganze Zeit.


--Für Sonja--

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Zuletzt aktualisiert: 12. Feb, 19:05

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