Montag, 22. Mai 2006

Bestiarium humanum

Die Blicke bohren durch das operationssaaltürkise Wasser.
Das ist seltsam getrübt, als hätte man mit dem letzten Regen Alpenkuhmilch aus dem fernen Europa hineingewaschen, was nicht abwegig wäre bei all den Milchseen dort im Winterwunderland. Soviel von dem weissen Zeug kann kein Schwein saufen, dass wir es anderswie loswerden. Könnte man es bloß auf die Schipisten kippen und es als Schnee verhökern. Könnte man bloß Milchpulver daraus machen, für die die an dem komischen Gewässer hier leben. Aber das ruiniert nur die Preise.
Mach dir nichts vor.

Die Fische sind zu zweit, beachtliche Kaliber, metallischer Schuppenpanzer, faustgroß und glasig die Augen. Nennen wir sie Bogo und Bernd, damit wir uns ihnen menschlich näher fühlen. Ansonsten sind die beiden allein in dem sterilen Loch, das so groß ist wie ein ganzes Land, und in dem sie leben seit sie denken können. Leben also eigentlich nicht, werden jene einwenden, die spitzfindig sein wollen. Aber existieren. Die Augen von Bogo und Bernd suchen, doch die Leere des Sees setzt dem Suchen nichts entgegen. Nichts an dem sich die Blicke reiben, einhaken, anhängen, dem sie nachjagen können. Die Fischaugen rutschen aus an der Glätte dieser Unterwasserwelt, wie seifige Füße in einer emaillierten Badewanne.
Das Licht, es ist ihm ein leichtes, dringt bis auf den Grund, der auch knochenbleicher Sandstrand sein könnte, gesehen im Suff durch schlieriges Brillenglas, platt und auf weiten Teilen unbewachsen, wie geharkt oder gerecht.
Gerecht ist das nicht. Denn der Hunger treibt die beiden bekiemten Kolosse an, sie kreuzen und queren unterwasser schon den ganzen Tag, die halbe Nacht.
Nichts kommt ihnen vors Maul. Nichts kann sich verbergen im Schlinggras und Schlick und nichts aufgestöbert werden.
Eine dumpfe Erinnerung siedelt an den paar Nerven der Fische und zerrt daran, das Wissen, dass da wo jetzt nichts Vernünftiges wächst, es einst wimmelnd lebte. Fressbares allenthalben. Auf Bogo und Bernds Fischnetzhaut hat sich dieses Bild nie gespiegelt, von viel früher muss also die Erinnerung an den Garten Eden herrühren, eintätowiert in Stammzellen oder Gene. Aus einer Zeit, da das Wasser noch kein aufgestauter See, sondern im Fluß war. Ein Mahlstrom. Aus der Zeit, bevor man einige von ihnen aus diesem bewegten Strom geholt und hier eingesetzt hat, in das gigantische Aquarium.

In Wahrheit nämlich fressen die Fischkolosse seit langem schon, Kannibalen gleich, den eigenen Nachwuchs oder die Überbleibsel von ihresgleichen, Gekröse das ihnen zugeworfen wird aus der Oberwelt. Doch auch das wird weniger, bleibt aus, weil jene Menschen rund um den See beginnen das Geschmier selbst zu verschlingen. Was anderes ist nicht mehr zu haben für die dort in der Oberwelt. Das andere verkaufen sie ins nördliche Wunderland. Denn das Geld, dessen sie habhaft werden können auf diese Weise, ist mehr wert.
Das ist nicht zynisch, es ist was es ist, sagt der Markt. Mehrwert, du verstehst. Mehr als der Fisch, mehr aber auch als das Fleisch. Und das Blut. Gewiss mehr als diese Frau dort, die auf den Strich geht, oder jenes Kind, das auf der Straße lebt und auch auf den Strich geht, mehr auch als der Mann, der nicht nur sich selbst vergiftet. Gier frisst Hirn. Sag es nur keinem, man wird dich sonst bezichtigen der Mainstreamsentimentalität.
Schau lieber hin: Jetzt halten die beiden Fische still im Wasser. Ein schönes hypnotisches Schweben. Man kann den Blick nicht abwenden. Das Schweben der Fische, wie es unsere aufgebrachten Nerven beruhigt. Bogo und Bernd spüren das Näherkommen des schlürfenden Geräuschs. Schon wieder. Deswegen halten sie still.
Fließend auswendig kennen sie den Ton, wie ein Trinker das Gluckern in der Flasche. Bogo und Bernd verharren nebeneinander eine Weile auf der Stelle, sanft auf- und abgetragen nur von der leeren Dünung. Du könntest ihnen zuschauen bis in den Traum hinein, mitschwimmen würdest du gerne. Da beginnt jeder von ihnen sich in horizontalen Kreisen zu drehen, um sich selbst, gegenläufug, einmal, zweimal. Anmutig drehen sie sich, als wäre dies ein Tanz hinter dem Wasserschleier. Lass dich nicht täuschen.

Nichts ist auszumachen als diese trübe Ödnis der Unterwelt und oben ein blasser Scheinwerfer, fade wabernd. Erst Minuten später und ganz im Verschwommenen beginnt sich etwas abzuzeichnen, die türkise Flächigkeit durchschneidend. In vielen unscharfen Linien senkrecht und waagrecht konterkariert es die Wasserfarbe: Das Netz.

Ja, Pech, der rechte der beiden Fischkolosse, Bogo, nur zufällig auch der größere, reagiert schneller. Nicht dass er abhaut. Er scheint längst zu wissen, dass das nichts mehr bringt.

Gelassen fast reisst er sein Maul auf, gespickt, voll mit Hundszähnen, renkt sich die Kiefer nahezu aus dabei. Er gräbt die Nadelspitzen in die Seite seines Begleiters und fetzt mit einem Ruck, der sagen will, sorry mann, ein Stück aus dessen Fleisch. Rosiges, jetzt leider unschön zerfranstes. So würden die in Europa das nicht haben wollen. Reklamationen würde es geben bei so einer Sauerei.

Bogo schluckt einen Teil seines Gefährten, der jetzt zur Seite gekippt ist, hilflos flösselnd. Er haut ein zweites Mal seine Zähne in Bernds Fleisch und wieder und wieder. Gleich leckt er sich die Lippen, denkst du dir. Seine Henkersmalzeit will er genießen, frisst alles auf. Geschickt und geschwind. Sogar das Gerippe, bevor er denen da oben zu guter Letzt ins Netz schwimmt.
Nur einen sollen sie heimbringen in den Hafen diesmal, einen mit blutigem Maul und prallem Bauch, den letzten für lange.


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