Briefschaften
Liebe Frau Doktor,
endlich ist es sich ausgegangen, zu schreiben und Ihnen zu antworten.
Ja, Frau Stieglitz, Ihre Tante, meine gestrenge Lehrerin, in Ausseerdirndl, Wetterfleck und mit Haarknoten habe ich sie in Erinnerung. Geistreich. Viel Verstand. Und Witz auch. Es begegnen einem nicht viele Menschen dieser Art. Erst recht nicht in der Schule. Sie sagte einem immer sehr direkt, was man im Leben mit links schaffen können, und wo man sich durchzubeißen haben würde.
Als ich letztes Mal die Mutter daheim besuchte und mit ihr einkaufen ging, liefen wir Ihrer Tante zufällig über den Weg und nach kurzem Zögern nützte ich die Gelegenheit, sie anzusprechen. Es sind bald dreißig Jahre her, seit ich zuletzt mit ihr gesprochen habe. Nun bin ich sehr froh darüber. Sie ist, wie sie war.
Lustig, wie klein dieser Planet scheint, was es für Zufälle gibt. Laut der Theorie irgendwelcher Kommunikationswissenschaftler soll jeder Mensch jeden auf dieser Welt über sechs Ecken „kennen“. Kennen ist gewiss übertrieben. Aber interessant ist das schon. Durschnittlich sechs Ecken zu Bin Laden. Oder zum Papst. Oder zu Ihnen.
Wie sind Sie denn auf dieses Symposium gekommen?
Einfach wirst du es nicht haben, hat sie zu mir gesagt, Ihre Tante, die Frau Stieglitz, weil, Genie bist du keins. Aber du hast ein bißchen Talent. Mehr in der musischen Richtung halt, wie so viele. Buchhalterin würde ich nicht werden wollen, an deiner Stelle. In eine Musikschule würde ich dich schicken oder in sowas künstlerisches. Dabei unterstellt man den musikalischen immer auch mathematisches Können, wegen dem Taktgefühl. Bei dir ist das ein bisserl anders, Genie wirst auch auf dem Cello keines. Man muss tun was man kann, hat sie gemeint. Und sitzt nicht so breitbeinig, hat sie immer geschimpft, wenn die Mädchen im Sommer mit kurzen Röcken ohne Strumpfhosen im Klassenzimmer auf den kleinen Holzstühlen hockten.
Mich betraf das nicht, ich habe immer Hosen getragen. Mein Vater hätte gerne einen Buben gehabt, statt mir, wissen Sie. Der Wunsch nach dem Sohne, ist der Vater vieler Töchter, sagt man doch. Haha! Wie sehr ich ihm eine Zeit lang diesen Wunsch erfüllen wollte. Schließlich hatten sie es doch besser, die Söhne, in meinen Augen. Stärker waren sie, kräftiger und lauter, setzten sich stets durch. Sie starben sogar eindrucksvoller, in den Kriegen oder bei Unfällen. Man schenkte ihnen Pfeil und Bogen und Fahrräder mit Wimpeln, mit Dreigang-Schaltung und gebogenen Lenkstangen, Heuschreckenfühlern gleich. Und junge Hunde. Sie waren selbst wie junge Hunde. Konnten eigens gefertigte Speere weiter werfen als die Töchter und hie und da schossen sie sich dabei sogar ein Auge aus. Das machte sie nur verwegener. Ich wehrte mich nicht gegen das Abschneiden der Zöpfe und übte das Speerwerfen, aber weit bin ich nicht gekommen damit. Eines Tages meinten die beneidenswerten Geschöpfe, ich solle eine Mutprobe machen, als Aufnahmeprüfung. Wenn ich die bestünde, dürfe ich künftig an all ihren Unternehmungen teilhaben und würde als vollwertiger Bub durchgehen. Aus dem Stand auf einen Metalltisch springen sollte ich, unmittelbar vor mir. Ich habe es nicht geschafft. Habe es nicht einmal richtig versucht. Haben Sie das einmal probiert? Aus dem Stand auf einen Tisch oder eine Bank springen? So etwas harmloses, werden Sie denken. Man unterschätzt in der Vorstellung immer die Furcht. Alles was der Mensch im Leben tut oder unterlässt, geschieht aus Angst. Angst vor Schmerz. Ist nicht von mir. Ein grimmiger Philosoph oder Antropologe(?) hat das geschrieben. Ob es wahr ist, weiss ich nicht. Ich hatte jedenfalls Angst vor den blauen Schienbeinen, die ich mir unweigerlich holen würde. Von da an wollte ich Prima-Ballerina werden, oder wahlweise Judoka, aber kein Bub mehr. Ist schon gut, lachen Sie nur über meine Logik. Zu Röcken und Kleidern konnte mich trotzdem keiner überreden, die fand ich schrecklich zugig. Und Sie wissen ja, Frau Doktor, wie kalt es bei uns üblicherweise war. Schön. Aber kalt. Pittoresk sagt man heute zu dieser Art windschiefer Mauern. Die Mutter musste sparen, seit der Vater weg war, und deswegen war es bei uns immer noch um ein paar Grade kälter, als im Rest des Ortes. So bleibt man frisch, sagte die Mutter immer, wenn wir morgens mit Eiszapfen an der Nase erwachten.
Ihre Famile gehörte natürlich zu den besseren Leuten, wenn man das heute noch so sagen darf, Frau Doktor. Zur anderen Seite. Quasi. Gutsbesitzer mit Wald, einer Jagd, Haus und Hof. So haben Sie diesen Marktflecken, den Ort Ihrer Kindheit, gewiss anders erlebt, behütet hoffentlich. Bis der Krieg kam. Sie sprachen von Pfützen, an die sie sich entsinnen, Lacken, an denen sie sorglos spielten. Mit Holz- oder Papierschiffchen? Es waren die Regenpfützen in den Bombentrichtern, sagten Sie. Sie erzählten vom Marsch der Elenden, in Fetzen durch den Ort, und vom Schießbefehl auf jeden, der denen eine gekochte Kartoffel oder eine Rübe oder sonst was Kaubares zustecken wollte, und von den Kindern, die es dennoch taten, weil man auf die Kinder nicht so gerne schoss vor aller Augen, und man muss sich die Eltern vorstellen, die dem Kind die Kartoffel in die Hand drückten und zu dem Kind sagten, geh, gib sie dem da, und die Maschinengewehre drohten. Im Anschlag. Was benötigt es, damit das Erbarmen stärker ist, als die Angst?
Meine Geschwister und ich spielten ab einem bestimmmten Zeitpunkt mit kaum einem mehr. Es wurde untersagt. Wegen dem Schandfleck. Der Schandfleck war, dass diese Frau, die Mutter, tatsächlich glaubte, die Kinder allein und ohne Manneshilfe großziehen zu können. Das konnte, durfte, nichts werden, wir wären kein Umgang, hieß es. Unerhört. Unerhört ist ein schönes Wort, finden Sie nicht? Nicht gehört an höherer Stelle. Aber die Hoffnung darauf trägt es in sich, so wie ungeboren. Ob die Empörung eine andere gewesen wäre, hätte der Vater sich vor einen Zug geworfen oder wäre einfach an Krebs gestorben? Dass er lebte, weiss der Geier wo, das war zuviel. Oder zu wenig für Erbarmen.
Die Nachbarinnen wollten keine in der Nähe haben, die mannstoll ihren Gatten nachstellen würde und die Nachbarn, keine die allzu selbständig für Unterhalt und Auskommen sorgte und so zum schlechten Vorbild für die eigene Gattin werden könnte. Zu sehr würde die Welt aus den Fugen geraten. Natürlich war das keinem bewusst, aber was heisst das schon: Bewusstsein.
Ihr Cousin, der Herr Rübig, wurde später der Lehrherr meiner Schwester. Fleischwarenfachverkäuferin sagt man heute.
Sie wurde übrigens hinausgeschmissen, die Fleischwarenfachverkäuferin, kurz vor der Abschlussprüfung, als sie wegen irgendeiner Erkrankung, eine Entzündung des Nierenbeckens war es, meine ich mich zu erinnern, zwei Tage nicht zur Arbeit konnte. Nun ja, nicht direkt deswegen, das wäre per Gesetz gar nicht möglich gewesen. Sie hätte gelogen und betrogen, habe das mit der Verkühlung nur vorgegeben, behauptete man. In Wahrheit sei sie stinkend faul und wolle sich vor der Arbeit drücken. Die Mutter, voller Angst ihre Kinder könnten missraten, zurechtgestutzt wie sie war, glaubte, was die Vorgesetzten sagten. (Da haben wir sie wieder, die Angst.) Deswegen hat es der Schwester nicht viel geholfen, als sie Blut pisste. Die Abschlussprüfung durfte sie dann aber doch belegen, nachdem die Mutter dreimal zu Herrn Rübig gegangen war. Der Dreifache Canossagang. Klingt beinahe wie doppelter Rittberger oder Vierfachaxel, nicht wahr? Den Lehrabschluss hat meine Schwester gewiss der Nachsicht Ihres Cousins zu danken.
Nach den Bergen fragten Sie mich letztes Mal. Ob ich sie liebe. Was soll ich Ihnen sagen, Frau Doktor? Berge sind Berge. Plattenverwerfungen. Hindernisse, die der Mensch seit jeher zu überwinden trachtet, und erst seit der Zeit der Romantik neigt man dazu, diese monumentalen Steinhaufen schön zu finden. Aber was schwafel ich wie eine Oberlehrerin, von Dingen die Sie bereits wissen. Mir gelingt es nicht, die Berge zu lieben. Oder irgendeine Landschaft. Wiewohl ich die klare Luft schätze, die einen oberhalb der Baumgrenze, wo es wieder licht und hell wird, umgibt, die einen hässlich werden lässt, weil sie scharf und kantig zum Vorschein bringt, was im Bodendunst sonst verdeckt bleibt. Nein, ich liebe sie nicht die Berge. Keine Landschaft.
Das Verb lieben liebe ich nicht. Zu groß das Wort vermutlich. Deswegen wurde es breitgewalzt und erschlagen, Schlagertext um Schlagertext. Woher kommt denn schon das Wort Schlager? Und warum geht es in dem Schlager immer ums „lieben“, der Berge, des Mädchens, der Sterne? Haben Sie sich das einmal überlegt? Aber ich schweife ab. Komme ins plaudern, als hätten wir alle Zeit der Welt und wären zum Spaß hier.
Wir sollten uns wirklich einmal treffen, Frau Doktor.
Mit freundlichen Grüßen
H.H.
Ach ja, falls es Sie interessiert:
http://smallworld.columbia.edu/
endlich ist es sich ausgegangen, zu schreiben und Ihnen zu antworten.
Ja, Frau Stieglitz, Ihre Tante, meine gestrenge Lehrerin, in Ausseerdirndl, Wetterfleck und mit Haarknoten habe ich sie in Erinnerung. Geistreich. Viel Verstand. Und Witz auch. Es begegnen einem nicht viele Menschen dieser Art. Erst recht nicht in der Schule. Sie sagte einem immer sehr direkt, was man im Leben mit links schaffen können, und wo man sich durchzubeißen haben würde.
Als ich letztes Mal die Mutter daheim besuchte und mit ihr einkaufen ging, liefen wir Ihrer Tante zufällig über den Weg und nach kurzem Zögern nützte ich die Gelegenheit, sie anzusprechen. Es sind bald dreißig Jahre her, seit ich zuletzt mit ihr gesprochen habe. Nun bin ich sehr froh darüber. Sie ist, wie sie war.
Lustig, wie klein dieser Planet scheint, was es für Zufälle gibt. Laut der Theorie irgendwelcher Kommunikationswissenschaftler soll jeder Mensch jeden auf dieser Welt über sechs Ecken „kennen“. Kennen ist gewiss übertrieben. Aber interessant ist das schon. Durschnittlich sechs Ecken zu Bin Laden. Oder zum Papst. Oder zu Ihnen.
Wie sind Sie denn auf dieses Symposium gekommen?
Einfach wirst du es nicht haben, hat sie zu mir gesagt, Ihre Tante, die Frau Stieglitz, weil, Genie bist du keins. Aber du hast ein bißchen Talent. Mehr in der musischen Richtung halt, wie so viele. Buchhalterin würde ich nicht werden wollen, an deiner Stelle. In eine Musikschule würde ich dich schicken oder in sowas künstlerisches. Dabei unterstellt man den musikalischen immer auch mathematisches Können, wegen dem Taktgefühl. Bei dir ist das ein bisserl anders, Genie wirst auch auf dem Cello keines. Man muss tun was man kann, hat sie gemeint. Und sitzt nicht so breitbeinig, hat sie immer geschimpft, wenn die Mädchen im Sommer mit kurzen Röcken ohne Strumpfhosen im Klassenzimmer auf den kleinen Holzstühlen hockten.
Mich betraf das nicht, ich habe immer Hosen getragen. Mein Vater hätte gerne einen Buben gehabt, statt mir, wissen Sie. Der Wunsch nach dem Sohne, ist der Vater vieler Töchter, sagt man doch. Haha! Wie sehr ich ihm eine Zeit lang diesen Wunsch erfüllen wollte. Schließlich hatten sie es doch besser, die Söhne, in meinen Augen. Stärker waren sie, kräftiger und lauter, setzten sich stets durch. Sie starben sogar eindrucksvoller, in den Kriegen oder bei Unfällen. Man schenkte ihnen Pfeil und Bogen und Fahrräder mit Wimpeln, mit Dreigang-Schaltung und gebogenen Lenkstangen, Heuschreckenfühlern gleich. Und junge Hunde. Sie waren selbst wie junge Hunde. Konnten eigens gefertigte Speere weiter werfen als die Töchter und hie und da schossen sie sich dabei sogar ein Auge aus. Das machte sie nur verwegener. Ich wehrte mich nicht gegen das Abschneiden der Zöpfe und übte das Speerwerfen, aber weit bin ich nicht gekommen damit. Eines Tages meinten die beneidenswerten Geschöpfe, ich solle eine Mutprobe machen, als Aufnahmeprüfung. Wenn ich die bestünde, dürfe ich künftig an all ihren Unternehmungen teilhaben und würde als vollwertiger Bub durchgehen. Aus dem Stand auf einen Metalltisch springen sollte ich, unmittelbar vor mir. Ich habe es nicht geschafft. Habe es nicht einmal richtig versucht. Haben Sie das einmal probiert? Aus dem Stand auf einen Tisch oder eine Bank springen? So etwas harmloses, werden Sie denken. Man unterschätzt in der Vorstellung immer die Furcht. Alles was der Mensch im Leben tut oder unterlässt, geschieht aus Angst. Angst vor Schmerz. Ist nicht von mir. Ein grimmiger Philosoph oder Antropologe(?) hat das geschrieben. Ob es wahr ist, weiss ich nicht. Ich hatte jedenfalls Angst vor den blauen Schienbeinen, die ich mir unweigerlich holen würde. Von da an wollte ich Prima-Ballerina werden, oder wahlweise Judoka, aber kein Bub mehr. Ist schon gut, lachen Sie nur über meine Logik. Zu Röcken und Kleidern konnte mich trotzdem keiner überreden, die fand ich schrecklich zugig. Und Sie wissen ja, Frau Doktor, wie kalt es bei uns üblicherweise war. Schön. Aber kalt. Pittoresk sagt man heute zu dieser Art windschiefer Mauern. Die Mutter musste sparen, seit der Vater weg war, und deswegen war es bei uns immer noch um ein paar Grade kälter, als im Rest des Ortes. So bleibt man frisch, sagte die Mutter immer, wenn wir morgens mit Eiszapfen an der Nase erwachten.
Ihre Famile gehörte natürlich zu den besseren Leuten, wenn man das heute noch so sagen darf, Frau Doktor. Zur anderen Seite. Quasi. Gutsbesitzer mit Wald, einer Jagd, Haus und Hof. So haben Sie diesen Marktflecken, den Ort Ihrer Kindheit, gewiss anders erlebt, behütet hoffentlich. Bis der Krieg kam. Sie sprachen von Pfützen, an die sie sich entsinnen, Lacken, an denen sie sorglos spielten. Mit Holz- oder Papierschiffchen? Es waren die Regenpfützen in den Bombentrichtern, sagten Sie. Sie erzählten vom Marsch der Elenden, in Fetzen durch den Ort, und vom Schießbefehl auf jeden, der denen eine gekochte Kartoffel oder eine Rübe oder sonst was Kaubares zustecken wollte, und von den Kindern, die es dennoch taten, weil man auf die Kinder nicht so gerne schoss vor aller Augen, und man muss sich die Eltern vorstellen, die dem Kind die Kartoffel in die Hand drückten und zu dem Kind sagten, geh, gib sie dem da, und die Maschinengewehre drohten. Im Anschlag. Was benötigt es, damit das Erbarmen stärker ist, als die Angst?
Meine Geschwister und ich spielten ab einem bestimmmten Zeitpunkt mit kaum einem mehr. Es wurde untersagt. Wegen dem Schandfleck. Der Schandfleck war, dass diese Frau, die Mutter, tatsächlich glaubte, die Kinder allein und ohne Manneshilfe großziehen zu können. Das konnte, durfte, nichts werden, wir wären kein Umgang, hieß es. Unerhört. Unerhört ist ein schönes Wort, finden Sie nicht? Nicht gehört an höherer Stelle. Aber die Hoffnung darauf trägt es in sich, so wie ungeboren. Ob die Empörung eine andere gewesen wäre, hätte der Vater sich vor einen Zug geworfen oder wäre einfach an Krebs gestorben? Dass er lebte, weiss der Geier wo, das war zuviel. Oder zu wenig für Erbarmen.
Die Nachbarinnen wollten keine in der Nähe haben, die mannstoll ihren Gatten nachstellen würde und die Nachbarn, keine die allzu selbständig für Unterhalt und Auskommen sorgte und so zum schlechten Vorbild für die eigene Gattin werden könnte. Zu sehr würde die Welt aus den Fugen geraten. Natürlich war das keinem bewusst, aber was heisst das schon: Bewusstsein.
Ihr Cousin, der Herr Rübig, wurde später der Lehrherr meiner Schwester. Fleischwarenfachverkäuferin sagt man heute.
Sie wurde übrigens hinausgeschmissen, die Fleischwarenfachverkäuferin, kurz vor der Abschlussprüfung, als sie wegen irgendeiner Erkrankung, eine Entzündung des Nierenbeckens war es, meine ich mich zu erinnern, zwei Tage nicht zur Arbeit konnte. Nun ja, nicht direkt deswegen, das wäre per Gesetz gar nicht möglich gewesen. Sie hätte gelogen und betrogen, habe das mit der Verkühlung nur vorgegeben, behauptete man. In Wahrheit sei sie stinkend faul und wolle sich vor der Arbeit drücken. Die Mutter, voller Angst ihre Kinder könnten missraten, zurechtgestutzt wie sie war, glaubte, was die Vorgesetzten sagten. (Da haben wir sie wieder, die Angst.) Deswegen hat es der Schwester nicht viel geholfen, als sie Blut pisste. Die Abschlussprüfung durfte sie dann aber doch belegen, nachdem die Mutter dreimal zu Herrn Rübig gegangen war. Der Dreifache Canossagang. Klingt beinahe wie doppelter Rittberger oder Vierfachaxel, nicht wahr? Den Lehrabschluss hat meine Schwester gewiss der Nachsicht Ihres Cousins zu danken.
Nach den Bergen fragten Sie mich letztes Mal. Ob ich sie liebe. Was soll ich Ihnen sagen, Frau Doktor? Berge sind Berge. Plattenverwerfungen. Hindernisse, die der Mensch seit jeher zu überwinden trachtet, und erst seit der Zeit der Romantik neigt man dazu, diese monumentalen Steinhaufen schön zu finden. Aber was schwafel ich wie eine Oberlehrerin, von Dingen die Sie bereits wissen. Mir gelingt es nicht, die Berge zu lieben. Oder irgendeine Landschaft. Wiewohl ich die klare Luft schätze, die einen oberhalb der Baumgrenze, wo es wieder licht und hell wird, umgibt, die einen hässlich werden lässt, weil sie scharf und kantig zum Vorschein bringt, was im Bodendunst sonst verdeckt bleibt. Nein, ich liebe sie nicht die Berge. Keine Landschaft.
Das Verb lieben liebe ich nicht. Zu groß das Wort vermutlich. Deswegen wurde es breitgewalzt und erschlagen, Schlagertext um Schlagertext. Woher kommt denn schon das Wort Schlager? Und warum geht es in dem Schlager immer ums „lieben“, der Berge, des Mädchens, der Sterne? Haben Sie sich das einmal überlegt? Aber ich schweife ab. Komme ins plaudern, als hätten wir alle Zeit der Welt und wären zum Spaß hier.
Wir sollten uns wirklich einmal treffen, Frau Doktor.
Mit freundlichen Grüßen
H.H.
Ach ja, falls es Sie interessiert:
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Nachtbriefkasten - 4. Sep, 12:25