Mittwoch, 20. September 2006

Schokoladeneisnachmittage

Sein Onkel war klein und dick. Es gab verschiedene Arten von klein und dick. Die einen waren wie das Michelin-Männchen oder diese erbarmungswürdige Hunderasse, der man eine um drei Nummern zu große Haut angezüchtet hatte. Die anderen eben wie sein Onkel, kompakt und fest. Zwerge aus einem Märchen. Oben auf dem gedrungenen Körper saß ein ebenfalls zu klein geratener Kopf, kahl, nippelgleich. Und die ständig flitzenden wendigen Äuglein, schrumplig wie Rosinen. Fehlt nur noch die Zipfelmütze und du wärst perfekt, am Liebsten würde ich Dich in einen Stollen schicken, dort kannst du Gold für mich aus dem Dreck kratzen, dachte Bernd, während er die Stricke fester zog. Die Äuglein flitzten. Mehr konnte der dicke Onkel im Moment auch nicht tun. Der stets geschwätzige Mund, verklebt mit Paketband. Die weiche Stimme, fortwährend schmeichelnd, endlich verschluckt.

Bernd wusste um die zeitweilige Atemnot seines Onkels, besonders wenn er sich aufregte bekam er kaum genug Luft, war einfach zu dick. Er überging dessen krampfhaft sich blähenden Nüstern, um die bereits weiße Schatten tanzten, während alles andere an dem Köpflein dunkel anlief. Und die flitzenden Rosinenaugen.

Er war immer freundlich gewesen, der Onkel. Solange Bernd sich erinnern konnte. Besonders freundlich war er zu den Schulgefährtinnen, die Bernd hie und da nach Hause einlud, in Onkels Wohnung, um mit den Mädchen gemeinsam zu lernen. Das Mädchen kam vorbei, und wenn es schließlich wieder ging, war es ihm peinlich über Bernds freundlichen Onkel zu reden.

Bernd war ein guter Schüler. Vor allem in Rechnen und Physik. Die Mädchen interessierten sich nicht für Rechnen und Physik. Wenn schließlich die Zeit gegen Ende des Schuljahres knapp wurde, tanzten sie eine nach der anderen an bei ihm, süß und lächelnd.
Die Mädchen interessierten sich auch nicht für Bernd. Dieser Streber, mit seinem rosinenfarbenen Kraushaar auf dem Kopf, das sich in keine vernünftige Fasson bringen ließ und mit dem Silberblick hinter den dicken Gläsern. Bernd bekam keine zweite Chance. Er war nicht der Typ, dem man eine zweite Chance gab. Es war offenbar wie mit den Büchern: Eines, das man nicht zweimal lesen will, ist es nicht wert, einmal gelesen zu werden. Das machte ihn stinksauer.

Wenn eine von den süßen da saß, neben ihm am Schreibtisch, Ulrike, Michaela, Susi oder wie die alle hießen, eine von denen eben, hübsch und frisch, mit vor Eifer und Konzentration oder vor Anstrengung irgendwas aus dem Lehrstoff verstehen zu wollen rosigen Wangen, warf Bernd ihr verstohlen Seitenblicke zu. Sie bemerkte es immer. Er, ruckzuck puterrot, schaute weg, in ihr Heft oder in seines. Steckte den Kopf zwischen zwei Seiten, Seitenblicke, DIN A4, kleinkariert, mit Korrekturspalte. Gern hätte er seinen Blick korrigiert, den Schielblick zurückgepfiffen in sein schwitzendes, brodelndes Hirn, verdammt.

Nach einer Weile schlich der Onkel ins Zimmer, das machte er immer. Meist mit einer Nascherei oder Softeis für Bernd und das Mädchen und ohne erst anzuklopfen. Der Onkel begann ungeniert das Mädchen auszufragen: Ja, wen haben wir denn da, wie alt bist Du denn, aha, hmhm, und wie heißt Du, wo wohnst Du, aha, hmhm, ist der Stoff langweilig, ja, mein Bernd ist ein Kluger, der wird dir schon zeigen, wo es lang geht, gelt Bernd. Geplänkel. Bernd kannte das. Ärgerlich wurde es, wenn eine der Gören so ein dümmliches Röckchen trug, in mint oder pink, weshalb mussten die Ziegen ihre dürren nackten Beine fortwährend zur Schau stellen. Gern hätte Bernd eine Kleiderordnung für seinen Nachhilfeunterricht erlassen.

Lass dich anschauen Mädchen, schöne lange Muskeln hast du, solltest zu uns in die Garde kommen; schmeichelte sein Onkel dann; dort bin ich Trainer, du wärst genau im richtigen Alter, mit der richtigen Figur, so ab zwölf bis allerhöchstens fünfzehn kann man das machen, danach passt ihr nicht länger in die Kostüme, platzt aus allen Nähten, die werden euch zu eng, du weißt schon; und er lächelte dabei, gütig wie der Papst; vor allem oben rum, schön, da hast du noch ein bißchen Zeit, du bist eine Knospe, bald musst einen BH tragen; und so weiter.
An manchen Tagen wuchs der alte Wicht wahrlich über sich hinaus. Bernd fiel auf, dass die Mädchen bei solchen Gelegenheiten begannen, irgendwo hin zu starren, dort, wo gar nichts war, ins Leere, als wären sie gelangweilt und wüssten schon was kommt. Aber er spürte auch, wie sie sich wanden, sah, dass ihnen das Blut genau so unter die Haut kroch wie ihm, wenn er sich bei einem seiner heimlichen Seitenblicke ertappt fühlte.
Wie er sie dabei beobachtete, als wären sie Fliegen im Netz einer Spinne. Und wie er nicht nur den Onkel verachtete sondern auch sich und die Gören, doch die Situation mochte er. Irgendwie. Wie sie weiter an dem Eis lutschten und verlegen starrten, die Puten. Sie würden danach nicht sagen können, welche Sorte Eis es gewesen ist, alle Sorten schmeckten wie nasse Watte in dem Moment, das wusste er, ihm ging es nicht anders.

Irgendwann, jedes mal, wenn er dem Mädchen genug an die Schultern und Schenkel gefasst, es unter dem Vorwand, herausfinden zu wollen, ob es für seine lächerliche Garde geeignet wäre, gezwickt und begutachtet hatte, verzog sich sein Onkel wieder.

Bernd und das Mädchen lernten weiter, gaben vor, es wäre nichts gewesen, stumm. Wenn er angefressen genug war und um das entstandene unangenehme Schweigen mit einer noch unangenehmeren Frage zu verfestigen, erkundigte er sich, wie ihr das Schokoladeneis geschmeckt habe, oder ob sie Zitrone oder Himbeer lieber möge. Schließlich, nach einer angemessenen Zeit des Abwartens (Lauerns), des erstarrt und vernagelt Seins, ging das Mädchen.
Alle gingen sie. Jede. Wenn sie Glück und ausreichend gelernt hatten, schafften sie es ohne Nachprüfung ins nächste Jahr, wenn nicht, Pech. Jedenfalls kam keine ein zweites Mal zu ihm.

Bernd zog die Schnüre um seinen Onkel fester. Der sah aus, wie ein zum Kochen zugerichteter Schinken, ein Rollschinken. Bernd musste lachen. Ein Rollschinken und obendrauf Rosinen, die in einem prallen blauen Heidelbeermuffin stecken, dachte er. Sein Onkel ließ die Augen flitzen. Mehr konnte er im Moment auch nicht tun.

.

D U ?

Du bist nicht angemeldet.

F I N D E N

 

P O S T

das glaub ich jetzt nicht;)
das glaub ich jetzt nicht;)
walhalladada - 12. Feb, 19:05
Wenn Sie wieder da sind,...
Wenn Sie wieder da sind, abonniere ich Sie wieder,...
walhalladada - 20. Jan, 17:40
Schweigen ist auch keine...
Schweigen ist auch keine Lösung! Maaah!
Tanzlehrer - 31. Aug, 22:35

B I L D E R W U T

F R E S S P A K E T



Michael Köhlmeier
Idylle mit ertrinkendem Hund


Jonathan Safran Foer
Everything is illuminated

O H R E N S A U S E N


Fredo Viola
The Turn



Adam & the Ants
Prince Charming


Arcade Fire
Funeral


David Martel
I Hardley Knew Me


Kaiser Chiefs
Off With Their Heads


The Ting Tings
We Started Nothing

N A C H S I C H T

September 2006
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
21
23
24
25
27
28
29
30
 
 

S T A T U S

Online seit 7058 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 12. Feb, 19:05

C R E D I T S


An einen Haushalt
Aufgelesen
Bar freigemacht
Best of Leserbrief
Blaupausen
Drohbriefe
Eilzustellung
Flugblaetter
Kasperlpost
Kettenbriefe
Porto zahlt Empfaenger
Strichweise
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren