Moosnester

Einmal die Woche, samstags, stieg man die fünf Treppen hinunter in den Keller. Man durchlief lange Gänge deren Böden mit Gussasphalt versiegelt im Halbdunkel lagen. Lediglich kleine Luken weit oben auf einer Seite der entfernten, in der Finsternis verschwindenden Decke, schickten mutloses Licht nach unten.

Man hangelte sich mit den Blicken, einem mittelmäßigen Trapezkünstler im Zirkuszelt gleich, die Heizungsrohre entlang, die dort droben mehr erahnt denn gesehen werden konnten. Beängstigend hoch, ewig lang und düster erschienen einem die Gänge im Kellergeschoß des umfangreichen Gebäudes das ein Schulhaus war. Darum erstreckten sich auch seitlich Holzbänke entlang der staubigen Wände und darüber zogen nun in raschem Rhythmus Kleiderhaken vorbei, an denen vereinzelt zurückgelassene Turnbeutel oder einsame Plastiksäcke hingen. So eilig, wie die Mutter einen am Arm durch die finsteren Gewölbe zog, weiter bis in Sphären, in die man später, als Schulkind, nie mehr würde vordringen, die einem in dieser fernen Zukunft nicht einmal als in dem selben Gebäude befindlich bewusst sein würden.
Durch mehrere eiserne Feuerschutztüren ging es weiter in Räume die etwas heimeliger anmuteten als die Treppen und Gänge zuvor. Tür an Tür reihte sich hier aneinander, links und rechts bis hin zur nahen Stirnseite des Raumes in dem man schließlich angekommen war.

An jeder Tür, knapp unter der Klinke, ein blecherner Kasten mit Schlitz, in einen von denen die Mutter jetzt ein Geldstück fallen ließ. Hohles Geklimper, wie leere Sparbüchse. Nicht satt, wie Münze an Münze. Der Türgriff wurde von der Mutter energisch nach unten gedrückt und noch einmal klapperte es in dem Opferstock, als wollte der sich höflich bedanken oder sagen
„Treten Sie näher, meine Damen.“
Die nunmehr aufgestoßene Tür gab den Blick frei auf eine altertümliche Brause, montiert an eine Wand voll vergilbter Kacheln und auf ein betagtes rissiges Stück Seife, das entgegen den Gesetzen der Schwerkraft an einem aus dieser Wand ragenden Bolzen zu haften schien. Das lag an dem kleinen Magneten den man in die nachgiebige Seite des Seifenstücks gedrückt hatte und der dieses nun in Stellung hielt. Ein ausgefranster Badeschwamm in einem Drahtkorb an der Seitenwand der Duschkabine ergänzte das Ensemble biederer Reinlichkeit.

Die Mutter begann rasch, beinahe ungeduldig, die Tochter zu entkleiden. Und während diese dann mit eingerollten Zehen frierend auf dem glaskalten Fliesenboden stand und wartete, entledigte sich auch sie ihrer Kleidung. Geschwind wurden noch Schuhe und Kleider auf der Pritsche vor den Duschkabinen geordnet und in akkuraten Stapeln zurückgelassen, die Tochter schließlich vor der Mutter her in die Duschkabine gescheucht und die Tür hinter den beiden zugezogen.

Ein Hauch klaustrophober Panik flog die Tochter jedes Mal an, bei dem Gedanken, die Mechanik könnte versagen und die Tür sich als Folge dessen nur noch mittels Münzeinwurf von aussen öffnen lassen. Wenn keiner käme, sie zu retten, würden sie hier drinnen in der beengten Zelle gewiss verhungern, dachte sie. So doch einer käme, rechtzeitig um sie zu befreien, würde dieser Retter sie beide nackt zu sehen kriegen. Ein Gedanke, der sie noch mehr gruselte, als der, hier eingeschlossen mit ihrer Mutter langsam zu verrecken.
Ihr Blick huschte jedes Mal besorgt nach oben, dahin wo die Wasserleitung in dem Brausekopf mündete. Und stets stellte sie fest: Die Wände der Kabine hatten ein Ende. Und zwar weit unter dem Plafond des Kellerraumes. Sie würden sich also selbst retten können. Gegebenenfalls. Auch wenn sie sich nicht vorstellen mochte, wie. Trotzdem kitzelte sie die Vorstellung immer wieder aus ihren Gehirnwindungen, so wie man einen schmerzenden Zahn immer wieder mit der Zunge antippt um nachzuschauen ob er noch da war, der Schmerz.
Eine Räuberleiter mit ihrer Mutter? Sie würde an ihrer nackten Mutter hinaufklettern, wie an einem viel zu glatten Baum, und dann? Wie würde sie, oben angekommen, den Abgrund der sich ihr auf der anderen Seite der Kabine auftun würde meistern? Etwa springen? Und was viel wichtiger war: welchen Anblick würde sie ihrer Mutter bieten, nackt da oben auf dem dürren Scheitel der Kabinenwand hockend, wie ein Huhn? Lachhaft. Nein, sie mochte es sich nicht vorstellen und starrte stattdessen lieber auf den nicht minder unheimlichen Abfluss, der quadratisch mit küchensiebähnlicher Abdeckung in der Mitte des Duschkabinenbodens eingelassen war. Und von dem man verstörenderweise nicht ahnen konnte, wohin das darunter verborgene Rohr führte. Was, wenn man den Deckel abnähme.. ob der Schlund einen..

Zum Glück holte sie das nun hart herabprasselnde, an ihr herunter rinnende und in diesem Abfluss wie in dem saugenden Maul einer extraterristischen Lebensform verschwindende heisse Wasser zurück in die Wirklichkeit.

In die feuchte Wärme, in die Dampfschwaden und zu dem Anblick, der sich jetzt mit aller Macht in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit drängelte:
Dem dichten Haarbusch ihrer Mutter.
Gerade in Augenhöhe und so in bester Position zu eingehender Betrachtung tanzte der mit den Bewegungen der Mutter einhergehend vor ihrem Gesicht.
Sanft verschleiert nur durch den Tröpfchennebel wurzelte das dunkle Haarnest, unbegreiflich für die Tochter und zugleich auch selbstverständlich, dort in dieser merkwürdigen Gegend des mütterlichen Leibes. Unbegreiflich ob ihrer eigenen schneckenartigen Nacktheit an dieser Stelle. Und geheimnisvoll. Weil dies ein Mysterium war, das sie selbst später, viel später, ebenfalls heimsuchen würde:
Haarwuchs an den an sich schon ungehörigen Geschlechtsteilen.

Sie überlegte, wofür dieses Haar denn gut sein konnte, an einer Stelle die stets sorgfältig verhüllt war, die weder den grimmigen Temperaturen des Winters noch je einer brennenden Sonne ausgesetzt sein würde.
Sie kam zu keinem Ergebnis. Die Mutter danach zu fragen nahm sie sich vor, jedes Mal wenn sie am Badetag gemeinsam in den Keller hinunter stiegen.
Sie wagte es nie. Bis zu dem Zeitpunkt da sie es dann ohnehin wusste, nicht.
Zuviel Scheu vor dem vermeintlichen Geheimnis das sich dahinter verbergen konnte. Ein Geheimnis ahnte sie verworren, das die Frauen rund und weich machte, das sie mütterlich werden und Kinder kriegen ließ. Sie fürchtete, dass irgendeine Zauberei, eine Abmachung zwischen den Frauen die dahinter stecken könnte, sie mit ihren naseweisen Fragen bloß stören würde.

Langsam mischte sich nun blasiger Seifenschaum in die dunkle Masse des Haarnestes, das vor ihr hing, wie durchweichte Moosflechten während eines Wolkenbruchs. Die Mutter wusch sich. Sie tat dies mit dem groben Lappen den sie mitgebracht hatte und mit genauso groben Bewegungen. Schleunig musste es gehen. Kein vorsichtiges Innehalten an den zarteren Stellen ihres Körpers.

Der Blick der Tochter glitt am Körper der Mutter nach oben, der Nabel, wie ein missmutig verzogener kleiner Mund im leicht gewölbten Bauch, feste Brüste mit lederartigen fast schwarzen Brustwarzen und die Achseln, die die Mutter jetzt ihrer Abreibung unterzog: auch hier das zwecklose Haar.
Alles ging gewissenhaft, feinsäuberlich und zielstrebig vor sich. Das ganze Waschen. Vom Kopf bis zwischen die Zehen.

Danach war die Tochter an der Reihe. Mit der gleichen Sachlichkeit, wie die Mutter sich selbst behandelt hatte, wurde nun die Tochter abgerieben bis die Haut sich rosig färbte. Zuletzt löste die Mutter die locker geflochtenen Zöpfe der Tochter um ihr das Haar gründlich zweimal zu waschen und zu spülen.
Mit dem nüchtern riechendem Shampoo. Auf der Flasche war ein Schmetterling zu sehen. Ob der nasse Flügel bekommen durfte? Wenn es ein Zitronenfalter wäre, würde das Shampoo dann nach Zitronen riechen?
„Was weiss ich. Du stellt Fragen. Es ist kein Zitronenfalter.“
Kein Innehalten. Auch jetzt nicht. Schon wurde das Wasser in üblicher Eile und unter erschrecktem Quietschen der beiden Mischhebel von den geschäftigen Händen der Mutter abgedreht. Quie – quie – quiek!
In der plötzlichen Stille des Raumes hallten die wenigen und rasch gesprochenen Worte der Mutter überraschend laut nach und sogar die letzten nachzüglerischen Tropfen produzierten ein Echo, wenn man nur genau genug hinhörte.

Die Füße bereits ein wenig aufgequollen – Froschhaut nannte man das wohl, obgleich Frösche im Wasser doch gar nicht aufquollen – tappte die Tochter hinter der nassen Mutter her aus der Duschkabine und wurde von dieser mit einem großen, schon fadenscheinigen Badetuch, das sie zuvor auf den Heizkörper gelegt hatte, umhüllt und kräftig abfrottiert.
Ein Schwall trockener Wärme umgab dank dieser fürsorglichen Geste die Tochter
und ließ sie minutenlang die düstere Abgeschiedenheit der Kellerräume vergessen. Zu guter letzt flocht die Mutter ihr das nasse Haar zu zwei dicken festen Zöpfen und band sie mit einem einfachen Gummiring zusammen. Ein immergleiches Ritual an ihrem Badetag. Die Tochter liebte die Wasserwellen, die am nächsten Tag ihr Haar wie das eines Engels aussehen lassen würde, wenn es nur nicht so braun, wenn es nur golden gewesen wäre.

Wieder angekleidet, durchwärmt und mit sauber glänzenden Gesichtern, sogar die Gesichtszüge schienen ordentlicher, aufgeräumter zu sein, ging es zurück durch die finsteren Gänge und hinauf über die hintere Treppe, die in den ersten drei Etagen freundlich breit und licht war, ausgelegt mit Linoleum, das in jedem Stockwerk die Farbe wechselte, von einem linden Grün zu Blaugrau und einem blässlichen Rot, vermutlich damit die Volksschüler sich leichter zurechtfinden konnten; das immer roch als wäre es eben frisch eingelassen und auf dem man, nur in Socken ohne Schuhe, prächtig Eiskunstlauf und Wettrutschen üben konnte; stieg weiter hinauf bis zur schmäler werdenden Holztreppe und kam schließlich ganz zuoberst in dem Gebäude in der kleinen Wohnung an, um den für eine Weile fallen gelassenen Alltag wieder aufzunehmen.

Die Gedanken an die Moosnester verloren sich schnell, noch während man auf dem Rückweg aus dem Bauch des Hauses war, genauso schnell wie die Dampfschwaden in dem Baderaum.



-//-für Renate-

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