Nachtbriefkasten

„Erstgeborene haben eben, ob gewollt oder nicht, gewisse Privilegien.“, erzähle ich. „Der Bruder meiner Freundin, er ist Musiker, komponierte ihrer Erstgeborenen sogar ein Lied.“, erzähle ich. „Ob er das für den Zweitgeborenen auch tat, weiss ich nicht, jedenfalls berichtete sie nichts davon. So, wie bei uns zu Hause. Für die Erstgeborene, meine Schwester also, wurde ein babygerechtes Fotoalbum angeschafft. Zahlreiche so süße Bilder entstanden. Ein damals noch nicht allzu billiges Vergnügen. Es waren die 1960er und Digi-Cams soweit entfernt wie der heutige Morgen zur ersten Mondlandung. Mit niedlichen Fotoeckerln wurden die Bilder eingeklebt und in sauberer Zierschrift mit vom Vater eigens gedichteten Reimen versehen. So prangte unter einem Schwarz-Weiss-Bild, aufgenommen bei der Babysäuberung, in blauer Tinte:
----Mama will an meine Nase,
doch geht’s nicht, wenn ich sie nicht lasse. -----“

„Das reimt sich ja nicht!“, sagt er.

„Doch!!“, sage ich.

„Nein!!! Der Reim holpert!“, sagt er.

„Nein!“, sage ich, „Klingt doch fast wie Wilhelm Busch!“

„Nein! Ha! Aber sicher nicht! Ich finde der holpert! Und wie!
Auf Nase müsste doch so was folgen wie Blase!
Oder auf lasse Klasse!!“, sagt er.

„Na gut,“, denke ich mir. „Er holpert.“

Geschichten haben manchmal ein überraschendes

Jede Stadt hat ihren Bauch. Oder zumindest ihr Bäuchlein. Das gehört sich so für eine, die sich Stadt nennen will. Der Naschmarkt zum Beispiel, wir sind uns doch einig, dass der Naschmarkt der Bauch von Wien ist. Oder der Bauch von Riga, der auch so heisst: ein Gewirr von Marktständen die unter gewölbtem Dach dahinmeandern.
Jede Ecke mit eigener olfaktorischer Marke. Da riecht es beängstigend süß in der Fleischhalle oder duftet heimelig dort, wo es lettischen Honig gibt. Paris hat auch einen dicken Bauch, wenn nicht sogar mehrere. Fettreserven wie Kamelhöcker. Graz nun hat keinen richtigen Bauch, eher das besagte Bäuchlein, so ein sanft gerundetes. Wiewohl es recht eckig daherkommt. Akkurat aufgefädelt zum Beispiel die Fleisch- Obst und Kürbiskernölstandeln am Kaiser-Josefs-Platz.

Am Muttertags-Sonntag aber sah ich ihn dann doch, den BAUCH von Graz. 10:30 im Café am Jakominiplatz schob er sich mitsamt seiner
8 bis 10 jährigen Besitzerin herein zur, ja, Schiebetür.
Im Schlepptau der nicht ganz so kleinen: Omi und Papi, ihr wie aus dem
Gesicht geschnitten oder umgekehrt. Obwohl noch genügend Gesicht
verblieben ist. Allen.
Platz nehmend bestellt das Mädchen sogleich ca. ein Barrel Coca-Cola für die ganze Familie und für sich selbst dann noch:
Grosse Pommes, bitte, aber mit viel Schnitzel dran!
10:30. Und Muttertags-Mutti war wohl gerade beim Kochen?

Natürlich soll man jetzt nicht Dinge sagen wie: „Das sind später die Leute, die Fluglinien verklagen, weil sie nicht zwei Sitzplätze zum Preis von einem bekommen!“, oder ähnlich dummes Zeug. Aber man darf sich schon fragen, wo das Unrechtsbewusstsein von Papi und Omi geblieben sein mag. Hat sich das frei genommen? Dann sichtlich nicht nur zum Muttertag.