Ein Sack Mehl

Der BMW rollte im Leerlauf auf den Parkplatz der besonders bei Bobos angesagten Appartementanlage. Er stieg aus und genoss dabei wie immer das satte Geräusch, das die Autotür beim Zufallen machte. Das klang nach dicker Brieftasche. Nicht so hohl und hysterisch wie bei all den Blechbüchsen auf Rädern. Keiner würde es hören, bei dem Verkehrslärm, der von der Straße her dröhnte. Er beugte sich über den offenen Kofferraum, um den Sack Mehl,
den er vorhin darin verstaut hatte herauszukramen und sich dann um den Appartementblock herum, den kurzen Hang hinauf, zu den Terrassen zu schleichen, die dort um eine Art halbes Atrium, nach der Seite zum See hin offen, angelegt waren.

Viel blankes Glas überall, die Leute hier mochten keine Gardinen.
Doch es war Dezember und längst dunkel. Keiner, der zufällig aus einem der überdimensionierten Fenster schauen würde, könnte ihn sehen, der würde bestenfalls sich selber im Spiegel der Glasscheibe erkennen können. Vielleicht wäre das auch der einzige Grund, warum einer dieser Bobos hier zum Fenster hin schauen würde. Auf der Rasenfläche im Atrium lag Schnee, nicht viel, höchstens Fingerdick. Aber an der Wand entlang, die Betonplatten und die Platten der Terrassen, die waren sauber gefegt, wie stets. Im Schutz der glatten eisblau verputzen Hausmauer und der nachtschattigen Dunkelheit unter den Balkonen stahl er sich heran an ihre Veranda ganz vorne, kaum zwanzig Meter vom Seeufer entfernt.
Dort streute er den gesamten Sack Mehl gleichmäßig über die Bodenplatten, hielt dann eine Weile lang still um zu horchen, zu lauern, ob jemand ihn etwa beobachtet hatte, versuchte, zwischen den Lamellen der herabgelassen Jalousien ihrer Terrassentür, hinter der Licht brannte und er ihr großes Bett wusste, durchzuschauen und verzog sich dann, als ihm das nicht gelang, zurück,
rund ums Haus und hin zu dem kurzen Treppenabsatz, der zu ihrer Wohnungstür führte.

Beherzt, zwei Stufen auf einmal nehmend, wie um sich Selbstvertrauen zu geben, stieg er den Absatz nach oben.
Sein erstes Klopfen schien ihm zu zaghaft, fast entschuldigend, er schickte dem gleich ein energisches Rattern hinterher, als er ausgiebig den Klingelknopf drückte. Dabei schaute er auf seine Armbanduhr.

Vor gut einer Stunde hatten sie miteinander telefoniert. Ihn plagte Sehnsucht nach ihr, was er ihr so natürlich nicht sagen konnte. Ob er noch vorbeikommen solle mit einer Flasche Wein, hatte er sie gefragt. Man könnte doch gemeinsam ein Gläschen trinken oder zwei und sich eventuell einen langweiligen Film ansehen im Fernsehen. Doch sie hatte abgewinkt. Zu müde sei sie von der Arbeit. Sie sehne sich nur noch nach ihrem Sofa und einem Buch. Na gut, hatte er geantwortet bevor er auflegte und seine Enttäuschung dabei verborgen, man sieht sich ja am Wochenende.
Dann hatte er die Flasche Wein, seine Zahnbürste und den Sack Mehl genommen und sich auf den Weg gemacht, die fünfundvierzig Kilometer zu ihr, über die arschglatte und um diese Jahreszeit durchwegs völlig vernebelte Autobahn.

Seit sieben Jahren kannten sie einander. Warum sie trotzdem noch immer nicht gemeinsam wohnten, konnte er sich nicht erklären. Aus ihrer Sicht hatte es sich einfach nie ergeben, zu weit voneinander entfernt die Arbeitsplätze, zu kompliziert das alles. Aber es ging ihnen doch sehr gut so. Aus ihrer Sicht.

Als sie die Wohnungstür öffnete, und sie öffnete rasch, obwohl sie keine war, die Überraschungsbesuche besonders leiden konnte, als sie also öffnete, war sie im Trainingsanzug. Locker sah sie darin aus, lässig. Ungeschminkt, das Haar auf perfekt schlampige Art hochgesteckt, war sie eine von jenen, die im Schlabberlook besser aussahen als in förmlicher Kleidung.
Er biss sich auf die Unterlippe, brachte ein halbes Lächeln zustande und ein Schulterzucken, als er ihr die Weinflasche, wie ein Schutzschild entgegenstreckte. (Ein guter Rotwein von der gediegenen Sorte aus Frankreich. Auf Experimente wie sie jetzt so beliebt waren, Weine aus Südafrika oder gar Chile, ließ er sich nicht ein.)

Mit einer ergebenen Geste, so als würde sie sagen wollen, na gut, wenn Du schon mal da bist, oder, weil’s Du bist, ließ sie ihn herein. So wie sie dabei im Türrahmen zur Seite trat, brachte sie ihn dazu, sich noch heftiger auf die Unterlippe zu beißen. Drinnen -Wärme und der Geruch nach Zimt- räumte sie flink ein paar Zeitschriften, Bücher und ihre zwei riesigen Wolldecken, die sie immer brauchte, wenn sie es sich daheim gemütlich machen wollte, von ihrem mehlweißen Sofa. Sie schmiss den ganzen Haufen auf ihr großes Bett hinten im Appartement und kam dann wieder, um die Weinflasche zu entkorken.

Er beobachtete sie, ihre geübten Handgriffe mit dem Korkenzieher, die Gelassenheit ihrer Bewegungen, als sie sich die zwei Weinkelche aus dem Küchenregal griff, sich die Haarfäden dabei aus dem Gesicht strich. Sein Gewissen rumorte, war sauer und stieß ihm auf, wie seit zwei Monaten abgelaufene Milch.

Man wechselte nur wenige Worte, wie das eben ist, bei großer Vertrautheit oder wenn man sich zu lange kennt. Sie tranken Wein und schauten sich dabei einen einfältigen Film im Fernsehen an, bei dem jeder seinen eigenen Gedanken nachhängen konnte ohne den Faden zu verlieren, weder den der eigenen Gedanken, noch den des Filmes. Er beobachtete sie von der Seite, wie sie da auf dem Sofa fläzte, sich entspannte, ihren Wein zu genießen schien. Er ließ die Blicke gewollt träge durch ihr Appartement schweifen, auf der Suche nach... Nach etwas. Nach einem Anzeichen, das es ihm erlauben würde, sich richtig elend aber nicht ganz so schuldig zu fühlen. Es gab keines.
Später schliefen sie zusammen in ihrem geräumigen Bett. Keine große Sache, man kannte sich schließlich nicht erst seit gestern.

Frühmorgens musste er los. Wie üblich, musste er um acht bei der Arbeit sein. Stockdunkel war es noch draußen und es hatte wieder begonnen zu schneien. Einzelne Flocken trödelten vom Himmel, so als wären sie gelangweilt, als würden sie auf ihre säumigen Spielkameraden warten, die noch oben waren.

Er verabschiedete sich nur kurz von ihr, wollte sie nicht richtig wecken.
Sie blinzelte ihn an, wie eine müde Katze, drehte sich zur Seite und schien gleich wieder einzuschlafen. Eine ganze Stunde hatte sie noch, bevor auch sie raus musste.

Auf Socken schlich er zur Wohnungstür, die Zahnbürste im Mundwinkel und die Stiefel in der Hand. Vor der Tür zog er sich die über und ging hinunter auf den Parkplatz, hin zu dem von Frost und frischen Schneeflocken weihnachtlich glitzernden Auto. Beinahe hätte er dabei schon begonnen ein Liedchen zu pfeifen, hielt dann aber im Gehen inne, abrupt, als wäre ihm im letzten Moment etwas in den Sinn gekommen, das er beinahe vergessen hätte.
Kurzes unentschlossenes Zaudern. Dann wandte er sich um, ein ironisches Lächeln im Gesicht, und lief, wie bereits am Vorabend, um den Block herum, in das Atrium und hin zu ihrer Terrasse, hin zu dem Haufen Mehl, den er vor ihre Tür gekippt hatte und in dem er jetzt deutlich die großen schweren Schuhabdrücke erkennen konnte.

Förmlich zertreten hatte jemand das Mehl vor der Tür. Und dann war er wohl gegangen. Die Spuren führten weg über die Terrasse und verloren sich im Neuschnee.


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