Mittwoch, 1. März 2006

Fetisch

Gretas Finger sehen wie groteske rote Würstchen aus, als sie endlich oben am Scheitel der Mauer zu sitzen kommt, wohin Kogler sie unter Aufbietung scheinbar all seiner Kräfte, jedenfalls aber mit viel Geächze, die längste Zeit hinaufzuschubsen versucht hat. Sie, die ohnehin kaum etwas wiegt.
Seit Tagen und Nächten verharren die Temperaturen erbarmungslos festgefroren weit unter Null, die Schneeschicht auf der Mauer misst vierzig Zentimeter und fühlt sich an wie Glaspapier. Greta hockt dort oben gleich einem Totenvogel, in ihrem zugigen viel zu weiten Mantel aus Jeansstoff und wartet darauf, dass der Lulatsch endlich nachkommt.

Aus Langeweile errechnet sie derweil die Höhe der Mauer: Kogler, circa einmeterfünfundneunzig. Plus mindestens noch ein halber Meter getürmte Steinquader. Plus die vor Tagen schockgefrostete Schneehaube. Macht in Summe? Eigentlich müsste sie jetzt Höhenangst anfliegen. Doch es ist dunkel, der Asphalt unter ihr wird von der Nachtfinsternis gnädig vernebelt und ausserdem hat sie ein Motiv für das, was sie hier treibt.

Irgendwann ist der Einstieg in den so abweisend umfriedeten Hof des Knabenwohnheimes geschafft. Wenn einer der Wachhabenden dort drinnen Lust hätte darauf zu achten, würden die Rauchzeichen ihres Atems die beiden Eindringlinge schnell verraten. Doch alles bleibt ruhig. Still und starr.

Der mit Gefrierbrand überzogene Hof bringt ein schmächtiges Glänzen zu Stande im Licht von Laternen, die nah am Gebäude lehnen und ihre Aufgabe nicht ernst nehmen. Am Haupteingang, das beinahe höhnisch weitoffene Tor, ist das einzige hell beleuchtete in dem gesamten Ensemble. Dort gibt’s eine Kamera, hatte Kogler ihr erzählt, deswegen müssten sie über die Mauer.

Greta und Kogler ducken sich im Schatten von Büschen oder sonstwelchem Gewächs - nicht weiter erkennbar bei dem vielen Schnee. Gewiss tut der Lange sich schwer in dieser gebückten Haltung zu laufen. Es scheint ihm tatsächlich viel daran zu liegen, sie hier einzuschmuggeln. Kein Wunder, denkt Greta sarkastisch, während sie hinter ihm herhastet.
Ihre Beine verfangen sich nicht so schnell in tatsächlichen oder eingebildeteten Hindernissen, wie jene Koglers, deswegen ist es für sie leicht, Schritt zu halten.

Einmal zusammen duschen in der großen Gemeinschaftsdusche.
Dort wo diese Pickelgesichter tagtäglich, im heissen Sprühregen unter Dampf gesetzt, ihren pubertären Träumen nachsinnen, um die Wette wichsen oder weiss der Himmel was sonst für kindische Schweinereien treiben. Dort will Kogler also in dieser Nacht mit ihr gemeinsam duschen. Wenn’s weiter nichts ist, denkt Greta. Kogler weiss zum Glück nicht, wieviel mehr sie zu tun bereit wäre.

Beim Gebäude angekommen, warten sie eine Weile, das Schnaufen unterdrückend, hinter einem übergewichtigen Pfeiler. Dann, auf ein Zeichen vom Kogler hin, queren sie in schnellem Lauf den Säulengang, passieren eine schmale Schwingtür und schlüpfen in die Nische unter der Treppe die nach unten in die Küche, nach oben zu den Schlafräumen führt. Drunten wird gelärmt, mit Töpfen gescheppert. Blechkonzert. Ein lauwarmer mütterlicher Duft zieht herauf, ein Geruch der Brechreiz auslösen will bei ihr. Sie schluckt ihn weg.

In dem Winkel unter der Stiege lässt Kogler sie eine Zeit lang alleine, während er sich beim diensthabenden Erzieher zurückmeldet. Ausgrechnet der Dobermann, wie ihn alle hier nennen, einer, der Missetäter schon an deren Geruch zu erkennen scheint. Aber nicht heute. Kogler bleibt unentdeckt, trotzdem er grundlos herumstottert. Dobermann, der unleugbar fast jedem beinahe allen Unsinn zutraut, dürfte Kogler für harmlos halten, stellt keine Fragen.
Kogler sprintet weiter nach oben um das Zimmer zu inspizieren das er sich normalerweise mit Kutten-Charly teilt und wirft anschließend einen Blick in den Duschraum. Alles leer. Es ist Sonntagabend. Die meisten der Bewohner faulenzen noch daheim bei ihren Familien, werden erst spätnachts eintreffen.

Auch als Kogler die Treppe diesmal herunterkommt wirft der Dobermann nur einen schlierig gelangweilten Blick auf den Langen und wachelt ihn vorbei, als wäre er eine lästige Fliege. „Ähm..was vergessen.“ „Ja, ja. Schon gut.“ Gähn.
Nun gilt es aber auch mit Greta im Schlepptau an dem Wachhund vorbeizukommen, der, wenn, dann stets bis spätnachts hinter seinem gläsernem Verschlag im Halbstock sitzt und dort Papierkram erledigt. Aus den Augenwinkeln beobachtet er dabei das Treiben auf der Treppe, entgeht ihm weder Kommen noch Gehen. Jeder der Halbstarken muss an ihm vorüber. Keiner, der nicht soll, kommt durch. Ausser man ist wie Greta. Schmal genug für den Speisenaufzug.

Guter Plan. Greta lacht und beinahe empfindet sie dabei Sympathie für diesen merkwürdigen Langen, der sich soviel Mühe gibt, nur um sie einmal nackt, mit nasser Haut zu sehen.

Der Geruch nach gekochter Milch in der weiss getünchten Kiste, die jetzt aus der Küche hochgefahren kommt, ist kaum auszuhalten. Trotzdem zwängt sie sich hinein in die klaustrophobische Enge des Aufzugs, der gleich neben dem Treppenabsatz Halt macht.
Ab geht es nach oben, ruckelnd und stotternd, von Stockwerk zu Stockwerk, viel zu langsam. Kogler rennt mit, die Treppen hoch, wieder vorbei am Dobermann, notdürftig darauf achtend, dass keiner sich an dem Lift zu schaffen macht während Greta, einem Stück schlecht gefaltetem Origami nicht unähnlich, darinnen kauert. In der vierten Etage nimmt er sie grinsend in Empfang.

Danach läuft alles wie im Drehbruch. Beinahe jedenfalls. Greta spielt ihre Rolle stets mit kühlem Kopf. Kaum beachtet sie den madig weissen, von orange-braunen Sommersprossen gesprenkelten Körper Koglers. Ob er hinter einem Güllewagen hergelaufen sei, fragen seine Mitbewohner ihn häufig, wenn er, Nacktheit nicht vermeiden könnend, in die Dusche kommt. Seine Statur, wie ein Witz auf Giacomettis Figuren. Ein wandelnder Zerrspiegel.

Greta beachtet nicht weiter was Kogler neben ihr treibt, befiehlt sich stattdessen das heisse Wasser, das aus allen Brausen rauscht und ihre durchgefrorene Haut wärmt, zu genießen, verbietet sich Gedanken an einen schnüffelnden, womöglich stierenden Dobermann und selbst als eine Gruppe Vierzehnjähriger in den Duschraum will und verschreckt wieder abzieht, lacht sie bloß laut, so laut, so wild und vulgär wie möglich. Sie sollen sich fürchten, die Buben, aber nicht so sehr, dass sie zu dem Wachhund hinrennen. Gerade soviel, dass sie am Türspalt stehen bleiben. Unter Kontrolle.

Nach fünfzehn Minuten ist die Show vorüber. Kogler ist vielleicht einer abgegeangen, oder auch nicht. Egal. Sie gehen in sein Zimmer, wo sie die Nacht über bei ihm schlafen wird. In Kutten-Charlys Bett, der sich am folgenden Abend über zurückgelassene Haare auf seinem Kissen wundern oder auch beklagen wird.

Nichts weiter wird passieren zwischen Kogler und ihr.
So ist der Deal, auch wenn Kogler den und ihr Motiv, überhaupt hier zu sein, nicht kennt. Man fragt nicht lange weshalb und weswegen ein Mädchen bereit ist hierher mitzukommen, wenn man so einer ist wie er. Man nimmt es als Anflug des Glücks, das sich auf einen kurzen Irrweg begeben hat.

Dort auf dem Bücherbord über Kutten-Charlys Bett liegt das, was Greta will. Was sie seit langem sucht und begehrt; was sie besitzen, ihr Eigen nennen, nach Belieben betasten, streicheln und vielleicht sogar lesen will. Das sie durchblättern will, rasch, langsam, immer wieder und dabei ihre Nase nahe an die gebündelten Blätter bringen, sodass sie im entstehenden Luftzug den Duft von Leim vermählt mit Papier riechen kann. Sie muss dieses Buch haben.

Irgendwann nachts, im Dunkeln wird sie aufstehen und sich diesen prachtvollen Band, den sie vor einiger Zeit im Unterricht, in Koglers Tasche liegen sah, greifen und in ihrem Rucksack versenken. In ihrem Beuterucksack, den sie meist unter dem Mantel trägt, nicht darüber, um sich eine eigenwillige Gestalt zu verleihen.


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Zuletzt aktualisiert: 12. Feb, 19:05

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